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Das Prokrustres-Bett als Symbol

„‚Wie ich ſehe, iſt die Freiheit etwas zu groß, — das wollen wir gleich zu ihrer Zufriedenheit abändern!‘ (Er hackt ihr die Beine ab.)“. Karikaturistische Darstellung eines Prokrustesbettes aus der deutschen Satirezeitschrift „Berliner Wespen“ vom 30. August 1878

Mythen sind – aus der Sicht bestimmter Therapieformen – Erzählungen, die in symbolischer Form innerpsychische Prozesse1 und Strukturen beschreiben und erklären. Ein Mythos beschreibt also (möglicherweise) in symbolischer Form, was in Dir vorgeht.2, 3 Man bezeichnet solche Erzählungen auch als ‚Narrative‚, sinnstiftende Erzählungen, die erklären aber auch beeinflussen: Wie du denkst, was du fühlst, was dir etwas wert ist, … Um sie zu verstehen, ist es notwendig, sie zu interpretieren bzw. (hermeneutisch) zu deuten.4, 5

Jemanden in ein Prokrustres-Bett legen heißt sinngemäß: Jemanden an Normen oder Erwartungen anzupassen: an die Normen der Gesellschaft oder einer Gruppe, der Eltern oder anderer Autoritäts-Personen: Anpassen bzw. zurechtbiegen an das, was als ’normal‘ empfunden wird.6

Der Mythos

Die Anpassung der Menschen an Normen,  an die gewünschte Normalität ist also kein Phänomen, das in der Neuzeit entstanden ist. Schon im antiken Griechenland wurde berichtet7, dass es auf dem Weg nach Athen einen Riesen namens Polypemon mit dem Beinahmen Prokrustres gab, der die vorbeikommenden Menschen in sein Bett legen ließ. War der Wanderer zu groß,  so wurden ihm die Füße abgehackt, bis er in das Bett passte. War der Wanderer zu klein, so wurde er gestreckt bzw. zurecht gehämmert oder ein Amboss auf ihn gelegt bis er groß genug war. Der berühmte griechische Held und Argonaut  Theseus tötete auf seiner Reise nach Athen mehrere Ungeheuer und Bösewichte, so auch Prokrustres – auf die gleiche Weise wie dieser die Wanderer getötet hatte. 8, 9

Das Prokrustres-Bett in der Psychoanalyse

Auch in der Psychoanalyse Jung’scher Prägung spricht man von einem Prokrustes-Bett, wenn die Passung zwischen den Erwartungen an eine Person bzw. einer Gruppe von Personen  (Berufsgruppe, Nationalität, Ethnie, …) bzw. Rolle (Mutter, Ehemann, Polizist, Führungskraft) mit der Persönlichkeits-Struktur nicht übereinstimmen.

Jean Shinoda Bolen , eine Neo-Jungianerin, spricht davon, wie schwierig es oft für Menschen ist, wenn die Erwartungen von außen (‚Stereotyp‚), die von unserer – patriarchalisch geprägten – Kultur stammen, nicht mit den inneren Strukturen („Archetypen„) einer Person  nicht übereinstimmen.  10

Bolen führt als Beispiel einen früheren Chefredakteur von Newsweek an, der äußerlich großen Erfolg hatte, sich dabei aber innerlich leer gefühlt hat, weil der Job mit ihm,  seinem Inneren nichts zu tun hatte.  11 Die Folge war eine leichte Depression,  ein Phänomen, dass sie bei zahlreichen Männern in der Mitte des Lebens festgestellt hatte und das sie häufig hinter Alkohol,  exzessiver Arbeit oder stundenlangem Fernsehen verstecken.

Das Prokrustes-Bett der Führung

Auch Führungskräfte liegen  (symbolisch) häufig in einem Prokrustes-Bett. Manche machen es sich selbst. Sie glauben ,  sich an ihre Ideal-Vorstellungen von Führung anpassen zu müssen. Sie verlangen von ihren Mitarbeitern und Ex-Kollegen, mit „Sie“ angesprochen zu werden, kommen im Nadelstreif zur Arbeit, halten Distanz zu Ex-Freunden und sprechen plötzlich in Hochsprache. Sie verstellen sich, verbiegen sich und vergessen dabei,  dass sie auch und vor allem mit ihrer Persönlichkeit führen und sie sich durch dieses künstliche Verhalten einen beträchtlichen Teil ihres Einflusses nehmen. Authentisches Führen ermöglicht Führen ohne Anstrengung, durch bloßes Dasein. Zudem verliert die Führungskraft durch ihr künstliches Verhalten zumindest einen Teil des Vertrauens ihrer Mitarbeiter und dadurch auch einen Teil ihrer Wirksamkeit.

Oft stecken auch andere Personen die Führungskraft in ein Prokrustres-Bett und verlangen unangebrachte Anpassung, vor allem bei neuen,  noch unerfahren Führungskräften. Zum Beispiel verlangen oft Chefs von diesen neuen Führungskräften einen bestimmten Führungs-Stil. Der Führungs-Stil mag vielleicht zu ihnen passen,  selten jedoch zu den ihnen unterstellten Führungskräften. Es ist angebracht, Ergebnisse zu erwarten bzw. Ziele zu erreichen,  nicht jedoch das Wie der Zierreichung, noch dazu wenn es sich dabei – wie häufig erlebt – um einen autoritären Führungs-Stil handelt.

Querverweise

Literatur und Links

Prokrustres-Mythos

Heinrich Wilhelm StollDamastes. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1,1, Leipzig 1886, Sp. 942–942 (Digitalisat).

Johannes IlbergPolypemon. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 3,2, Leipzig 1909, Sp. 2683–2683 (Digitalisat).

Otto HöferPolypemonides. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 3,2, Leipzig 1909, Sp. 2683–2689 (Digitalisat)

Sylvia Seelert: Theseus. Die Wanderung nach Athen. In: http://www.mythentor.de/griechen/theseus2.htm

Prokrustresbett. Aus wiktionary. https://de.wiktionary.org/wiki/Prokrustesbett#cite_note-Kluge-5

 

Zu Archetypen und Stereotypen – Shinoda Bolen

Jean Shinoda Bolen: Göttinnen in jeder Frau. Psychologie einer neuen Weiblichkeit. Ullstein, 2004. Engl.: Goddesses in Everywoman HarperCollins, 2008

Jean Shinoda Bolen: Götter in jedem Mann. besser verstehen, wie Männer leben und lieben. Heyne, 1998. Engl.: Gods in Everyman: Archetypes That Shape Men’s Lives. Harper Collins, 2009.

 

Zu Archetypen, inneren Konflikten und zur Amplifikation in der Analytischen Psychologie

Christian Roesler: Narrative Biographieforschung und archetypische Geschichtenmuster. https://cgjung.de/wp-content/uploads/2019/02/Narrationsforschung-und-archetypische-Muster.pdf. Aus: Prof. Dr. Christian Roesler: Grundlagentexte zum Forschungsverständnis. S. 214 – 234

Ralf T. Vogel: Analytische Psychologie und die ihr angemessenen Forschungsmethoden – Epistemologische Überlegungen zu ihrem Status als Wissenschaft. https://cgjung.de/wp-content/uploads/2018/10/AP_167_Vogel.pdf, Aus: Prof. Dr. Christian Roesler: Grundlagentexte zum Forschungsverständnis. S. 74 – 105.

o. A.: Innerpsychische Konflikte: Was wir an anderen kritisieren, sagt viel über uns selbst aus, 26. August 2019. https://gedankenwelt.de/innerpsychische-konflikte-was-wir-an-anderen-kritisieren-sagt-viel-ueber-uns-selbst-aus/

Anne Milek: Konfliktmanagement. Eine Einführung in Begrifflichkeiten. Präsentation fu-berlin. https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/arbpsych/media/lehre/ws0607/12577/praesentation_konflikte_25102006.pdf. (Hinweise auf innerpsychische, intrasubjektive Konflikte, z. B. Ambivalenzen)

Maren Hofmann: Psychodynamische Konflikte. https://www.psychotherapie-neumuenster.de/konflikte/. (8 Arten von Ambivalenz-Konflikten im OPD – Modell der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik

Andreas von Heydwolff: Amplifikation In: Gerhard Stumm, Alfred Pritz (Hrsg.): Wörterbuch der Psychotherapie. S 22-23

o. A.: Analytische Psychologie. (C. G. Jung). Aus: therapiedschungel.ch. http://www.therapiedschungel.ch/content/S_u_M_Haupt_Analytische_Psychologie_nach_Jung.htm

Lutz Müller: Amplifikation. https://www.symbolonline.de/index.php?title=Amplifikation

 

Querverweise

 

 

  1.   z. B. innerpsychische Konflikte – vgl.z. B. o. A.: Innerpsychische Konflikte 
  2.   Vgl. dazu z. B. Christian Roesler: Narrative Biographieforschung und archetypische Geschichtenmuster.  Ralf T. Vogel: Analytische Psychologie und die ihr angemessenen Forschungsmethoden 
  3. Die Figuren des Mythos beschreiben Archetypen. Vgl. dazu Roesler: „Archetypen stellen angeborene Faktoren der Psyche dar, die als Muster strukturierend auf diese einwirken und sich im Erleben und Handeln äußern (Samuels et al., 1989). In der Analytischen Psychologie wird davon ausgegangen, dass archetypische Muster die Biographie von Menschen beeinflussen und gestalten (Hillmann, 1996). Ein Hauptanliegen Jung’scher Psychotherapie ist es, mit dem Klienten zu untersuchen, welche Archetypen sein Leben prägen bzw. welcher Mythos in seinem Leben zum Ausdruck kommt. Archetypen gestalten also die Identität.“ Christian Roesler: Narrative Biographieforschung und archetypische Geschichtenmuster.   
  4.   »Die Psychoanalyse tritt zunächst nur als eine besondere Form der Interpretation auf, sie liefert theoretische Ge-sichtspunkte und technische Regeln für eine Deutung von symbolischen Zusammenhängen« (Habermas, 1973, S. 263). Aus: Ralf T. Vogel: Analytische Psychologie und die ihr angemessenen Forschungsmethoden , S. 88 
  5.   Die psychoanalytische Methode, Mythen mit dem Leben bzw. psychischen Äußerungen (z. B. Träumen) in Verbindung zu setzen und dadurch zu verdichten bzw. zu vertiefen, nennt man in der Analytischen Psychologie auch ‚Amplifikation‚ – Vgl. Andreas von Heydwolff: Amplifikation. Vgl. auch Lutz Müller: Amplifikation, o. A.: Analytische Psychologie . Personale Daten werden mit transpersonalen, kollektiven verbunden, wodurch neue Einsichts- und Lebensmöglichkeiten entstehen können. 
  6. Vgl. dazu meinen Blog-Beitrag ‚Normopathie: Wie normal sind wir? ‚ 
  7.   Die Erzählung stammt vom griechischen Geschichtsschreiber Diodor – vgl. Prokrustresbett
  8.   Vgl. Die Stichwörter „Damastes“, „Polypemon“, „Polypemonides“ und „Theseus “ im Ausführlichen Lexikon der griechischen Mythologie – siehe Literaturverzeichnis
  9.   In einer anderen Version hatte Prokrustres 2 Betten und ließ die Wanderer böserweise immer in das nicht-passende legen:  „Nach einer kurzen Reise begegnete ihm der letzte und grausamste Straßenräuber zu dieser Zeit. Man kannte ihn unter dem Namen Prokrustes, der Gliederstrecker. In seinem Haus gab es zwei Betten, ein sehr kurzes und ein sehr langes. Nahm er einen sehr kleinen Menschen in heuchlerischer Gastfreundschaft bei sich auf, so legte er ihn in das große Bett. Dann streckte er sein Opfer, um ihn der Länge des Bettes anzupassen und quälte ihn so zu Tode. Kam jedoch ein sehr großer Mensch, so legte er ihn in das kleine Bett und hieb ihm seine Glieder ab, bis der Körper in das Bett passte. Theseus ließ ihn für seine grausamen Taten auf die gleiche Weise büßen.“   Theseus. Die Wanderung nach Athen. In: Das Mythentor 
  10.   Vgl. Jean Shinoda Bolen: Götter in jedem Mann., S. 20 ff. „Die von unserer patriarchalischen Kultur geforderte Anpassung gleicht dem Prokrustres-Bett der griechischen Mythologie. … (Es) gibt Männer, bei denen Stereotyp  (die Erwartung von außen) und Archetyp genau übereinstimmen. Ihnen macht es Spaß , Erfolg zu haben. … (S. 20) “
  11.   „Jeden Morgen zwängte ich mich …  (S. 20 f.)“

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