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„Es ist was es ist“ (Erich Fried)

Erich Fried

„Es ist Unsinn
sagt die Vernunft.
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

 

Es ist Unglück
sagt die Berechnung.
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst.
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht.
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

 

Es ist lächerlich
sagt der Stolz.
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung.
Es ist was es ist
sagt die Liebe:“ 1 2

.

Interpretationshinweise

Akzeptanz der Realität – akzeptieren, was ist

„Man muss jeden Menschen
wirklich als Menschen nehmen
und darum seiner Eigenart entsprechend behandeln.“
C. G. Jung.

Das Gedicht ist in Erich Fried’s gleichnamigen Gedichtband zu den Themen „Liebe“, „Angst“, „Zorn“ und „Varia“ enthalten, einer Sammlung, die ihn „unbeugsam, offen, ehrlich und kompromisslos“3 zeigt.

Die Realität anzuerkennen, ist eine zentrale Botschaft des Gedichts. Es ist wichtig, nicht wegzusehen, sondern hinzusehen: „Es ist was es ist“ – und das vorerst ohne Bewertung. Unsere Sinnesorgane bzw. generell unsere psychischen Funktionen (Wahrnehmung, Denken, Emotionen, …) helfen uns, das was ist ins Bewusstsein zu holen.4

„Die Empfindung stellt fest, was tatsächlich vorhanden ist.
Das Denken ermöglicht uns zu erkennen, was das Vorhandene bedeutet,
das Gefühl, was es wert ist,
und die Intuition schließlich weist auf die Möglichkeiten des Woher und Wohin,
die im gegenwärtig Vorhandenen liegen.“
C. G. Jung.

„Akzeptiere es.
Es ist nicht Resignation,
doch nichts lässt Dich so viel Energie verlieren,
wie die Diskussionen und der Kampf gegen eine Situation,
die Du nicht ändern kannst.“
(S.H. der XIV. Dalai Lama)5

Auf der einen Seite gilt es, das was wir nahmen zu akzeptieren (im Gegensatz zum Jammern, Lamentieren, Klagen, …). Auf der anderen Seite gilt es aber auch zu erkennen, dass die Welt, so wie wir sie wahrnehmen nur eine der möglichen Sichtweisen ist, dass sie unsere eigene Konstruktion aus unserer Perspektive ist.

Unsere Aufgabe ist nicht, zu bewerteten, ob wir unsere Lebens-Situation und unser Schicksal verdient haben, sondern unsere Aufgabe in dieser Situation zu erkennen, und damit dieser Situation, so schwierig sie auch ist, Sinn zu verleihen. Das ist auch die zentrale Botschaft von Viktor Frankl, dem Begründer der Sinnorientierten Psychotherapie, wie er es in seinem Buch „Trotzdem ja zum Leben sagen„, beschreibt.

 

Das Beste draus machen

„Wenn ich mit der Wirklichkeit streite,
verliere ich – in jedem Fall“
Byron 5

Eine Situation zu akzeptieren, wie sie ist, ist ein wichtige Voraussetzung für die Bewältigung von Problemen und Herausforderungen, vor allem auch bei Führungs-Herausforderungen. Auch wenn keine Lösung in Sicht ist, ist es wichtig, gut mit einer nicht-lösbaren Situation umzugehen (Stichwort: Change it – love it – leave it). Auch dazu ist Akzeptanz wichtig.

Das Gedicht ermöglicht (bzw. erleichtert) aus meiner Sicht in einzigartiger Weise, diese Akzeptanz innerlich zu erreichen, eine passende Einstellung dazu zu finden.

 

Probleme anerkennen, nicht abwerten

Eine ähnliche Sicht ist die Forderung, Probleme nicht abzuwerten. Um zu guten Lösungen zu kommen ist eine Voraussetzung, die Probleme nicht zu ignorieren, sondern sie anzuerkennen, zu akzeptieren.

Michael Schmid   unterscheidet vier Ebenen der Abwertung bzw. Akzeptanz von Problemen: „Abwertungen verschärfen Konflikte. Die Kenntnis der vier Ebenen der Abwertung hilft bei der Lösung von Problemen.“7

  1. Die Existenz des Problems wird abgewertet (Das Problem existiert gar nicht!)
  2. Die Bedeutung des Problems wird abgewertet (Das Problem existiert zwar, ist aber nicht so wichtig!)
  3. Die generelle Lösbarkeit des Problems wird abgewertet (Da kann man nichts machen!)
  4. Der eigene Anteil am Problem und die eigene Lösungskompetenz werden abgewertet (Andere mögen das schaffen, aber ich nicht!).

Schmid meint, dass, je höher die Ebene ist, auf der die Probleme abgewertet werden, desto schwieriger ist es, passende Lösungen zu finden.7

Menschen nicht ändern wollen

Besonders häufig begegnen wir die fehlende Akzeptanz gegenüber anderen Menschen, vor allem, wenn sie uns nahestehen.

In vielen Partnerschaften entsteht ein realistisches Bild vom Anderen erst nach der rosaroten Verliebtheits-Phase. Dann sehen wir auch die Anteile am Partner, die wir bisher übersehen hatten oder bei denen wir bewusst weggesehen haben.

Dazu passt der Spruch, dass Männer wollen, dass ihre Frauen so bleiben, wie sie sie ursprünglich kennengelernt haben, während Frauen wollen und hoffen, dass sich ihre Männer ändern (in eine von ihnen beabsichtigten Richtung). Häufig sind es die Forderungen der Frauen, ihre Männer sollen sich besser kleiden, öfter rasieren, gemeinsam mit ihnen kochen, mehr Zeit für Gespräche haben9 und sich gesünder ernähren.10

Meist geht das schief. Männer können nicht verhindern, dass sich ihre Frauen weiterentwickeln und auch die Erziehungsmaßnahmen der Frauen an ihren Männern scheitern.

Was Akzeptanz nicht ist

Akzeptanz wird oft mit Resignation oder Zustimmung verwechselt. Das ist sie nicht.

„Akzeptanz bedeutet nicht Resignation oder aufgeben.
Akzeptanz bedeutet nicht Zustimmung, also inhaltlich einverstanden zu sein.
Akzeptanz bedeutet, voll und ganz die Realität anzunehmen. Das, was ist. Ob es uns gefällt oder nicht.
Akzeptanz bedeutet, die Existenz einer bestimmten Situation anzuerkennen 
und in diesem Sinne JA! dazu zu sagen.“5

 

Den emotionalen Widerstand aufgeben

Birgit Kropik fasst den Sachverhalt gut zusammen: Akzeptanz der Realität bedeutet auch, den emotionalen Widerstand aufzugeben, die Opferrolle zu verlassen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.

„Es geht darum, den emotionalen Widerstand gegen die Realität aufzugeben.
Denn wir leiden meist nicht an der Situation selbst, sondern an unseren Reaktionen darauf.
Weil die Wirklichkeit oft anders ist, als wir es uns erwartet oder erwünscht haben, sind wir wütend, ängstlich oder enttäuscht.
Anstatt mit aller Kraft gegen die Wirklichkeit zu kämpfen, sollten
wir den emotionalen Widerstand dagegen aufgeben.
Erst die Akzeptanz der Realität schafft die Grundlage dafür, in der Folge dann Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen
und die Opferrolle zu verlassen.“

 

Nicht vorschnell urteilen

Wie oben bereits erwähnt, enthält das Gedicht auch die Aufforderung, nicht (zu schnell) zu werten und zu urteilen. Dieses Prinzip wird auch in anderen ‚Weisheits-‚Sprüchen und -Geschichten angesprochen[z. B. in der Geschichte vom chinesischen Bauern und seinem Pferd.]

 

Selbstreflexion

Dieses Gedicht mit der Aufforderung zur Akzeptanz der Realität hat auch Bezüge zum Prinzip „Change-it, love it, leave it“ (zum „love it“) und zum Entwicklungs-Thema der Selbst-Liebe und Selbstakzeptanz.

Fragen zur Selbst-Reflexion finden sich bei diesen Themen.

 

Querverweise

 

Links und Literatur

Erich Fried: Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte. Wagenbach, Berlin 1996.

Erich Fried: Realitätsprinzip. Aus: texte.namiss.de. https://texte.namiss.de/html/efried/real.html.

Anna Mader: „Erich Frieds Gedichtband: ‚Es ist was es ist‘ (1983). Entstehung, Textanalysen, Rezeption“. Diplomarbeit. Wien. 2013. (Literaturanalyse)

Michael SchmidVon der Abwertung zur Lösung.   Aus: www.leadion. https://www.leadion.de/2012/08/02/Von-der-Abwertung-zur-Loesung/.

Viktor Frankl: Trotzdem ja zum Leben sagen. Kösel Verlag. 2010. (Volltext im Internet Archive: … trotzdem Ja zum Leben sagen. https://archive.org/details/TrotzdemJaZumLebenSagen/page/n3.).

 

Radikale Akzeptanz

Katrin Zeug: Radikale Akzeptanz. Ich schaffe das! Aus: zeit.de. 14. 19. 2017. https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/05/psychiatrie-krise-suizid-depressionen/komplettansicht.

o. A.: Radikale Akzeptanz. Aus psyberlin.com. 23. 1. 2012. https://www.psyberlin.com/2012/01/23/radikale-akzeptanz/.

Birgit Kropik: 12 Wege, um psychich stärker zu werden. Teil 4: Äußere Umstände und innere Zustände annehmen. Aus birgitkropik.at. https://www.birgitkropik.at/uploads/Situationen-annehmen.pdf.

Doris Rolke, Marie Boden: Krisen bewältigen-Stabilität erhalten-Veränderung ermöglichen. Oder: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Aus: pflege-in der psychiatrie.eu. https://www.pflege-in-der-psychiatrie.eu/files/kongressband/Kongressband_2008.pdf#page=274.

 

Änderungs-Wünsche / – Forderungen /-Verhalten

Sullivan, K. T., & Davila, J. (2014). The problem is my partner. Treating couples when one partner wants the other to change. Journal of Psychotherapy Integration, 24(1), 1–12. https://doi.org/10.1037/a0035969.

Sarah E. Jackson, Andrew Steptoe, Jane Wardle: The Influence of Partner’s Behavior on Health Behavior Change. The English Longitudinal Study of Ageing. Aus: JAMA Intern Med. 2015;175(3):385-392. doi:10.1001/jamainternmed.2014.7554. https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2091401.

Melanie KhoshmashrabVersuche nicht, deinen Mann zu ändern. Aus: www.womenshealth.de.  14.01.2022. https://www.womenshealth.de/love/beziehungsprobleme/partner-aendern/.

 

12

  1.   Aus:  Erich Fried: Es ist was es ist.
  2.   Anna Mader:  hat zum Gedichtband eine Literaturanalyse geschrieben: „Erich Frieds Gedichtband: ‚Es ist was es ist‘
  3.   Mader, S. 17
  4.   Erich Fried hat zu diesem ‚Realitätsprinzip‘ ein eigenes Gedicht geschrieben:

    Realitätsprinzip.

    Die Menschen lieben
    das heißt die Wirklichkeit hassen
    Wer lieben kann
    der kann alles lieben
    nur sie nicht

    Die Wahrheit lieben?
    Vielleicht.
    Erkennen kann Lieben sein.
    Aber nicht die Wirklichkeit:
    Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit

    Was wäre das
    für eine Welt
    wenn die Wirklichkeit
    diese Wirklichkeit rund um uns
    auch die Wahrheit wäre?

    Die Welt vor dieser
    Wirklichkeit retten wollen.
    Die Welt wie sie sein könnte lieben:
    Die Wirklichkeit aberkennen

    Erich Fried“

  5. Aus:  Birgit KropikÄußere Umstände und innere Zustände annehmen
  6. Aus:  Birgit KropikÄußere Umstände und innere Zustände annehmen
  7.   Vgl. Michael SchmidVon der Abwertung zur Lösung
  8.   Vgl. Michael SchmidVon der Abwertung zur Lösung
  9.   Vgl. Khoshmashrab. 
  10.   Vgl. Jackson.
  11. Aus:  Birgit KropikÄußere Umstände und innere Zustände annehmen
  12.    To do: Radikale Akzeptanz und Gedicht-Interpretation trennen 

Ein Kommentar

  1. Das Gedicht hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Danke

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