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Die Frage der Fragen

Ein Spruch, ein Text mit dem Titel „Die Frage der Fragen“1 aus den Geschichten des Rabbi Sussja kann uns zum Nachdenken über unseren Lebensweg, unseren (inneren) Entwicklungs-Weg (‚Individuation‚) und unseren derzeitigen Standort auf diesem Weg anregen. Rabbi Sussja sagt kurz vor seinem Tode:2

Die Frage der Fragen: (Chassidische Geschichte)
„Vor dem Ende sprach Rabbi Sussja:
‚In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen:
Sussja, warum bist du nicht Mose gewesen?
Man wird mich auch nicht fragen:
Warum bist du nicht David gewesen?
Man wird mich fragen:
Warum bist du nicht Sussja gewesen?‚“
Martin Buber34

 

Israel Ben Eliezer, ein Begründer der chassidischen Lehre

Der Hintergrund: Der Weg des Menschen – Mein Lebensweg

Dieser Spruch, diese kleine Geschichte, stammt aus der chassidischen Lehre5 6 7 und kann uns helfen, darüber nachzudenken, wie wir unser authentisches Leben führen und unseren persönlichen Lebensweg gehen können. Martin Buber hat sie uns in Erinnerung gebracht.8

In seinen Erzählungen der Chassidim 5 zeichnet er den Weg des Menschen aus der Sicht der chassidischen Lehre nach.10  Dabei weist er darauf hin, dass sich in uns von Zeit zu Zeit die (Standort-)Frage stellt. 11

* Wo bist du in deiner Welt?
* So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen,
wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?

Einzigartigkeit und Individuation

Der Baum des Lebens – Symbol für mein Selbst

Stellt man sich diesen Fragen, dann unterstützt das den Wunsch oder das Bestreben, sich auf den eigenen Weg zu machen. Dabei ist es wichtig, sich der eigenen Einzigartigkeit bewusst zu sein. Buber formuliert es so:12

„Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat, etwas Ernstes und Einziges.
»Pflicht ist es jedermanns …[auf Erden], zu wissen und zu bedenken, da er in der Welt einzig in seiner Beschaffenheit ist,
und es ist noch kein ihm Gleicher auf der Welt gewesen,
denn wäre schon ein ihm Gleicher auf der Welt gewesen, er brauchte nicht auf der Welt zu sein.
Jeder Einzelne ist ein neues Ding in der Welt, und er soll seine Eigenschaft in dieser Welt vollkommen machen.“

Hier wird sehr deutlich auf den Prozess der Individuation hingewiesen: „Werde, der du bist.“

Noch einmal: Rabbi Sussja

Nun ist der Kreis geschlossen. Um unser authentisches Leben führen zu können, müssen wir unseren eigenen Lebensweg gehen, der uns zu unserem Selbst, zu unserem Baum des Lebens führt. Um dort anzukommen, ist es wichtig sich seiner Individualität, seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit bewusst zu werden – und nicht in der Bequemlichkeit der Anpassung an die Normalität zu versinken. Der Spruch kann uns helfen, diese Einzigartigkeit zu finden und uns an ihr zu orientieren. Noch einmal der Spruch in seiner Kurzform:

„In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen:
Warum bist Du nicht Mose gewesen?
Man wird mich fragen:
Warum bist Du nicht Sussja gewesen?“ 

Selbstreflexion:

  • In welchem Ausmaß lebe ich derzeit mein authentisches Leben?
  • Was ist meine spezifische Einzigartigkeit?
  • Welchen Lebensweg bin ich bisher gegangen und wie will ich ihn weitergehen?
  • In welchen Lebensbereichen bzw. Situationen lebe ich in Fremdbestimmung und kann nicht so leben, wie es zu mir passen würde.
  • Wo brauche ich mehr Achtsamkeit, um wirklich bei mir zu sein?
  • Was hindert mich, mein authentisches Leben zu führen?

Selbsterfahrungsübung:

  • Übung: „Warum bin ich bisher nicht [eigener Name] gewesen?“
  • Schreibe diese Frage mit deinem eigenen Namen als Überschrift.
    Dann schreibe spontan, ohne viel nachzudenken in 5 oder besser 10 Minuten auf, was dirdazu einfällt.
  • Hinweise, damit die Übung gelingt: Stelle dir einen Wecker auf die beabsichtigte Zeit ein und schreibe einfach drauflos, was immer dir in den Sinn kommt. Lies nicht nach vor dem Ende dieser Zeit, lass einfach die Hand schreiben, was immer dir in den Sinn kommt, so dass auch dein Unbewusstes einen Beitrag geben kann. Sei neugierig, wo es dich hinführt, wenn du „es schreiben lässt“ ohne es gedanklich zu kontrollieren.
  • Musik zur Selbst-Erfahrung und Selbst-Reflexion

    Eine passende Musik (vielleicht Trancemusik, die vorwärts treibt13) kann diesen Prozess unterstützen.  Lenke beim Schreiben deine Aufmerksamkeit auf den Atem und auf die Töne der Musik, nicht auf den Inhalt des Schreibens.

  • Auswertung: Anschließend lies durch, was du geschrieben hast, durchdenke es, interpretiere es, lass deine Gedanken dazu schweifen. Wenn möglich rede anschließend mit einer Person deines Vertrauens (Partner_in, Freund_in, …) darüber
  • Wiederholung: Ist dir die Übung beim ersten Mal nicht gelungen, hat dein Verstand dich noch zu sehr kontrolliert, bist du noch nicht in den Fluss gekommen, dann wiederhole diese Übung mehrmals. (Das ist der Normalfall)
  • Konsequenzen: Geh anschließend der Frage nach: Welche Konsequenzen will ich daraus ziehen? oder: „Wie kann ich mein Leben authentischer gestalten? (…so, dass es wirklich mein Leben ist, dass es zu mir passt.)“ Schreib dir ein paar Punkte auf (kurzfristig und langfristig realisierbare) und wähle einen Punkt aus, mit dem du sofort beginnen kannst.

Post Skriptum: Mein Meister pflegte zu sagen…

Ein Spruch aus dem Indischen geht in eine ähnliche Richtung:14

Mein Meister (Sri Ramakrishna) pflegte zu sagen:
“Warum bringst du nicht deinen eigenen Lotos zum Blühen?
Die Bienen werden dann von selbst kommen.”

Querverweise

Individuation

Zusätzliche Literatur und Links

Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Manesse Verlag, 2014.

Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre. Gütersloher Verlag-Haus. 2003.

Martin BuberHundert chassidische Geschichten. Schocken Verlag, 1935.

Bernd Aretz: Martin Buber. Eine erste Begegnung. Verlag Neue Stadt. 2016.

Oliver Beihammer: Der Weg des Menschen. Aus: download.pdfs.com.  https://download-pdfs.com/v6/preview/?pid=6&offer_id=26&ref_id=515e4bcd177fea00d9amnImiEs9b8V00_01d2b4de_c28f910b&sub1=15027&keyword=Der%20Weg%20Des%20Menschen.

o. A.: Die Frage aller Fragen. Die Rätsel der Existenz: De Philosoph Jim Holt nimmt uns mit aufeine fesselnde Entdeckungsreise. Aus: rowohlt.de. https://www.rowohlt.de/news/die-frage-aller-fragen.html.

  1.   Zur zeitgenössischen Philosophie-Frage aller Fragen vgl. z. B. o. A.: Die Frage aller Fragen.   
  2.   Eine verkürzte Version der Geschichte lautet:

    „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen:
    Warum bist Du nicht Mose gewesen?
    Man wird mich fragen:
    Warum bist Du nicht Sussja gewesen?“

  3. Marin Buber: Die Erzählungen der Chassidim
  4. vgl. auch Aretz 2015 
  5.   einer religiösen Weisheitslehre aus dem Judentum, die mit Spontanität und Lebenslust verbunden ist (vgl. auch Lexikon) und sich vieler Weisheits-Geschichten (vgl. Buber: Erzählungen und Geschichten) bedient. Es gibt eigentlich nicht den Chassidismus sondern mehrere voneinander unabhängige Bewegungen davon
  6.   Der Chassidismus ist eine ‚Weisheits-Lehre‚ aus der Tradition des osteuropäischen Judentums, die  mit Spontanität und Lebenslust verbunden ist (vgl. auch Lexikon) und sich vieler Weisheits-Geschichten (vgl. Buber: Erzählungen und Geschichten) bedient. Martin Buber, ein bekannter Philosph und (Religions-)Psychologe charakterisiert die chassidische Lehre als Lehre der Begeisterung:

    Die chassidische Lehre ist wesentlich ein Hinweis auf ein Leben in Begeisterung, in begeisterter Freude. Aber diese Lehre ist nicht eine Theorie, die unabhängig davon besteht,  ob sie verwirklicht wird. Vielmehr ist sie nur die theoretisch Ergänzung eines Lebens, das wirklich … gelebt worden ist …“ (Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. )

  7. Martin Buber beschreibt die chassidische Lehre als Dualität von Legende und Wirklichkeit.

    Er meint, dass diese Lehre bzw. sein Buch zu dieser Lehre „… in eine legendäre Wirklichkeit einführen (will). Ich muss sie legendär nennen, denn die Überlieferungen, denen es die ihnen angemessene Form zu geben unternommen hat, sind nicht chronistisch zuverlässig. Sie gehen auf begeisterte Menschen zurück, die in Erinnerungen und in Aufzeichnungen festgehalten haben, was ihre Begeisterung wahrnahm oder wahrzunehmen glaubte. …
    Darum muss ich es eine Wirklichkeit nennen: die Wirklichkeit der Erfahrung begeisterter Seelen, eine in aller Unschuld entstandene Wirklichkeit, ohne Raum für Erfindung und Willkür. ,,,
    Die Seelen berichteten aber eben nicht von sich, sondern von dem, was auf sie gewirkt hat. Was wir ihrem Bericht zu entnehmen vermögen, ist somit nicht eine Tatsache der Psychologie allein, sondern eine des Lebens….
    Begeisterndes geschah, und es wirkte, wie es wirkte …
    Das ist echte Legende, und ist ihre Wirklichkeit.“
    Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim (1), (2).

  8.   Auch in einer Rede des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker weist dieser auf diese kleine Geschichte hin.
  9.   einer religiösen Weisheitslehre aus dem Judentum, die mit Spontanität und Lebenslust verbunden ist (vgl. auch Lexikon) und sich vieler Weisheits-Geschichten (vgl. Buber: Erzählungen und Geschichten) bedient. Es gibt eigentlich nicht den Chassidismus sondern mehrere voneinander unabhängige Bewegungen davon
  10.   Es ist in dieser Lehre der Weg zum „Baum des Lebens„, der ein Symbol für unser inneres Selbst darstellt. (vgl. Buber: Erzählungen und vgl. auch Beihammer: Der Weg des Menschen und Gerald Weidner: Der Weg des Menschen.
  11.   Buber ist Religionsphilosoph und bezeichnet sie als die Fragen Gottes, denen wir uns stellen sollen. Aus der Tiefenpsychologie und aus der Biographieforschung wissen wir, dass sich diese Fragen der persönlichen Standortbestimmung auch  aus dem Unbewussten ins Bewusstsein gelangen, besonders in der Lebensmitte – und dort auch (Entwicklungs-)krisen auslösen können.
  12.   Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, S. 16. Vgl. auch  Oliver Beihammer: Der Weg des Menschen.
  13.   z. B. Bruce Werber und Claudia Fried: Shamanic  und Trance
  14.   aus Azmuto – Zitate

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