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Luftperspektive der Brandenberger Alpen, Tirol.

Perspektivenwechsel ist die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen. Es ist auch eine empathische Fähigkeit, d. h., die Möglichkeit, sich in die Schuhe von anderen zu stellen und zu versuchen, so wahrzunehmen, so zu denken, zu fühlen und zu werten wie diese andere Person. 

Perspektivenwechsel und Empathie haben vor allem 2 Komponenten

  • eine emotionale Komponente: sich in Gefühle, Stimmungen, Emotionen, Affekte … einfühlen zu können
  • eine kognitive, rationale Komponente: sich in die Gedankenwelt der anderen Person zu versetzen.

Das Problem: Die 3 Weisen

Ein kleines Testbeispiel aus der kognitiven Psychologie zeigt die rationale Komponente des Perspektivenwechsels1

„Drei Weise gerieten in Streit darüber, wer von ihnen der Klügste wäre.
Ein zufällig vorbeikommender Mann konnte den Streit schlichten, indem er ihnen einen Scharfsinnstest vorschlug.
‚Ihr seht‘, sagte er, ‚ich habe hier fünf Mützen, drei schwarze und zwei weiße. Schließt die Augen!‘
Darauf setzte er jedem der Weisen eine schwarze Mütze auf. Die beiden weißen verbarg er in seiner Tasche.
‚Nun könnt ihr die Augen öffnen‘, sagte er. ‚Wer errät, welche Farbe die Mütze hat, die sein Haupt ziert, der darf sich für den Klügsten halten‘.

Lange saßen die Weisen da und blickten einander an. …
Endlich rief einer aus: ‚Ich habe eine schwarze auf!‘
Wie hat er das herausgefunden?“2

Die Lösung

Die Lösung wird in der Fußnote beschrieben. Versuchen Sie es zuerst selbst zu lösen:3 4

Interpretation und Hintergründe

Das Problem stammt von Nadežda Podgoreckaja, einem russischen Mathematiker und Psychologen. Damit  wurde am Psychologisches Institut der Ruhr-Universität Bochum experimentiert und die Experimente wurden ausgewertet. 5

Die Lösung erfordert einen doppelten (kognitiven) Perspektiven-Wechsel:

  • Der Weise A, der die Lösung findet, geht in die Perspektive von B: Was denkt und tut B?
  • Und er geht davon aus, dass B auch einbezieht, was C (und A) denken und tun. (kognitive Empathie, kognitiver Perspektivenwechsel)
  • A, B, C sind dabei jeweils austauschbar.

„Der Problemlöser muss sein Wissen zurückstellen und sich in die Lage desjenigen Weisen versetzen, der seine Mützenfarbe herausgefunden hat. Als dieser Weise Nr. 1 muss er sich wiederum in die Lage des zweiten Weisen versetzen, um aus dieser neuen Position über den dritten Weisen nachzudenken.
Der Lösungsprozess bedingt also, dass mehrfach die vorher eingenommene Perspektive gewechselt wird. Diese kognitive Leistung, Überlegungen in der Perspektive eines anderen durchzuführen, ist bislang wenig untersucht worden.“5

Ronald Laing: Meta-Perspektive

Ronald Laing, ein bekannter britischer Psychoanlytiker, Psychotherapie-Forscher und Psychiatrie-Kritiker (1927 – 1989, er lehrte am renommierten Londoner Tavistock Institute of Human Relations.)7 nannte diesen Wechsel der Perspektive in die Perspektive eines Anderen, der sich wiederum in die Perspektive eines Dritten versetzt: Meta-Perspektive bzw. Meta-Meta-Perspektive. und den Prozess, der mehrere Stufen umfassen kann als „Prozess interpersoneller Wahrnehmungen“  – Vgl.  Ronald D. LaingKnoten.  ] 8

John H. Flavell: Rollenübernahme und Metakgonition

Flavell entwickelt ein entwicklungspsychologisches Konzept der Rollenübernahme. Darin ist die Fähigkeit des Perspektivenwechsels bzw. der Übernahme einer Perspektive von einer anderen Person in 2 Versionen enthalten:9

  • Die Fähigkeit, das Verhalten Anderer vorherzusagen (kognitive Rollenübernahme) bzw. das dahinterliegende Denken vorherzusehen (rekursives Denken)
  • Die Fähigkeit, so wahrzunehmen wie andere bzw. die Position der Wahrnehmung von anderen zu erkennen und zu übernehmen (perzeptive Rollenübernahme).
Schachtelung der Perspektiven (strichlierte Linie = Lösungsverlauf)

Die Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel bzw. zur Übernahme einer anderen Perspektive beinhaltet also sowohl die Fähigkeit so wahrzunehmen wie andere, als auch, so zu denken wie andere. In unserem Beispiel ist besonders der zweite Aspekt gefragt. 

Das Modell von Falvell enthält 3 Entwicklungs-Stadie für Perspektiven-Wechsel bzw. Rollenübenahmen.

  • Niveau 1: egozentrisch. Die Person hat nicht die Fähigkeit die Perspektive eines Anderen zu übernehmen, sich vorzustellen, was der Andere tun wird.
  • Niveau 2: Perspektivenübernahme. Die Person kann sich in Andere hineindenken (und -fühlen)
  • Niveau 3: Reziprozität der Perspektiven: Die Person erkennt, dass beide versuchen werden, die Perspektive des Anderen einzutauchen und ihre Strategien daran ausrichten.

Die Schachtelung der Perspektiven

Die Besonderheit und Komplexität des Beispiels oben liegt in der Schachtelung der Perspektiven, wie sie in der Abbildung dargestellt werden. 

Experimente am Psychologisches Institut der Ruhr-Universität Bochum

Wirksame Hilfe in einem Experiment zu diesem Problem

Am Psychologischen Institut der Ruhr-Universität Bochum wurden mit dem Problem Experimente durchgeführt. Die Probanden bekamen das Problem zur Lösung präsentiert und gaben laut zu Protokoll, welche  Überlegungen sie anstellten, um der Lösung näherzukommen. Dabei zeigte sich, dass das Problem von den meisten Probanten als sehr komplex eingestuft wurde und sie unterschiedliche Typen von (meist falschen) Lösungswegen angewendet haben (z. B. Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Gerechtigkeits-Überlegungen …). Sie meisten Probanten brauchten  Hilfen, um die Lösung zu finden.10

Die Hilfe mit dem größten Nutzen war die Perspektivenhilfe im nebenstehenden Bild.

Querverweise

Perspektivenwechsel

Die Schwägerin in Familien-Unternehmen.

Lösungen für die Praxis – Unterschiedliche Facetten.

 

Links und Literatur

Jutta Werner, Fran-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems. Psychologisches Institut der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitseinheit Kognitionspsychologie. Bericht Nr. 34 / 1985. Aus: ruhr-uni-bochum.de. https://www.ruhr-uni-bochum.de/ecopsy/berichte/34-1985.pdf.

Nadežda Podgoreckaja: Logisches Denken bei Erwachsenen (russisch). Moskau 1980. Zitiert nach Jutta Werner, Fran-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems. (bzw. nach Matthäus, 1982).

W. Matthäus: Analyse einer Logelei mit Perspektivenschachtelung. Unveröffentlichtes Skript, Institut für Psychologie, RuhrUniversität Bochum, 1982. Zitiert nach Jutta Werner, Fran-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems.

Ronald D. Laing: Knoten. Rowohlt 1989.

 

Flavell: Rollenübernahme und Metakgonition

John H. Flavell: The Development of Role-Taking and Communication Skills in Children. New York: Wiley, 1968.
Deutsch: Rollenübernahme und Kommunikation bei Kindern. Weinheim: Beltz, 1975.

John H. Flavell: The Development of Role-Taking and Communication Skills in Children. In: jstor.org. In: Young Children, vol. 21, no. 3, 1966, pp. 164–177. Aus: JSTOR, https://www.jstor.org/stable/42720660?seq=1.

John H. Flavell: Metacognition and cognitive monitoring. A new area of cognitive-developmental inquiry. American Psychologist, 1979, 34, 906 – 911. Aus: psycnet.apa.org. https://psycnet.apa.org/record/1980-09388-001.

John H. Flavell: Annahmen zum Begriff Metakognition sowie zur Entwicklung von Metakognition. In: Franz E. Weinert, Rainer H. Kluwe (Hrsg.):  Metakognition, Motivation und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer, 1984.

Thomas Schwinger: Perspektivenübenahme als Basis des Psychodramas. Vortrag an der Clemens-Ochridski-Universität Sofia, 1999. Aus: eh-darmstadt.de. https://www.eh-darmstadt.de/fileadmin/user_upload/lehrende/Schwinger/Perspektivenuebernahme_als_Basis.pdf.

 

Logeleien / Rätsel / Knobelaufgaben

Bernhard Seckinger: Logelei von Zweistein. Jubiläumsausgabe. Fischer TB. 2012. (1 – Hamburg. 1968).

Christobel Kie: Neue Logeleien von Zweistein. pdf. Aus: sites.google. com. https://sites.google.com/a/gumon.press/christobelkie/neue-logeleien-von-zweistein.

o. A.: Zweistein. Aus: zeit.de. https://www.zeit.de/autoren/Z/Zweistein?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F.

Martin Gardner: Aha! Insight. San Francisco: Freeman, 1978.

o. A.: Brainteaser in der Bewerbung. 60 Beispiele und Lösungen. Aus: karrierebibel.de. https://karrierebibel.de/brainteaser-bewerbungsgesprach/.

 

Empathie

Luise Reddemann (2019): Über Mitgefühl. Ein common factor in der Psychotherapie traumatisierter Menschen? In: systeme, 33 (1), S. 6-23.

 

  1.   Die kognitive Psychologie beschäftigt sich – vereinfacht gesagt – mit unserem Denken, unseren Wahrnehmungen und unserem Problemlösen.
  2.   Aus: Jutta Werner, Franz-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems. S. 1. 
  3.   Die Lösung entspricht der folgenden oder einer ähnlichen Beschreibung:

    „Der Weise überlegt: ‚Ich sehe zwei schwarze Mützen vor mir.
    Angenommen, ich habe eine weiße auf.
    Dann würde der zweite Weise vor sich eine schwarze und eine weiße sehen.
    Er müsste dann folgendermaßen überlegen:
    ‚Wenn ich auch eine weiße aufhätte, so würde der dritte, der mit der schwarzen Mütze,
    sofort draufkommen und erklären, dass er eine schwarze hätte.
    Er schweigt jedoch.
    Also heißt das, dass ich keine weiße, sondern eine schwarze aufhabe.
    ‚Weil der zweite nichts dergleichen sagt, so habe ich folglich eine schwarze Mütze auf.'“
    (Aus: Jutta Werner, Fran-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems. ) 

  4. Man kann die Lösung auch so beschreiben:

    • Die drei Weisen sind A, B und C.
    • A findet die Lösung: „Ich habe eine schwarze Mütze“.
    • Hätten zwei der drei Weisen eine weiße Mütze, so hätte der dritte sofort die Lösung für sich: schwarze Mütze – weil es ja nur 2 weiße Mützen gibt. A kann davon ausgehen, dass das auch B und C wissen.
    • A wechselt die Perspektive, versetzt sich in B und überlegt die erste Alternative: „weiße Mütze“ (ich trage eine weiße Mütze). Was wäre dann? In diesem Falle wüsste B auch gleich die Lösung: schwarze Mütze. Denn hätte B eine weiße Mütze und A auch eine weiße Mütze dann wüsste C sofort seine Lösung: schwarz und würde das auch gleich sagen.
    • Da beide schweigen, kommt für A nur die Lösung „schwarz“ in Betracht.

    Verallgemeinernd kann man sagen: 

    • Sieht einer der drei Weisen eine weiße und eine schwarze Mütze, so weiß er, dass er eine schwarze Mütze hat, wenn nicht sofort ein Anderer „schwarz“ sagt, weil er 2 weiße Mützen sieht.“ (Dann wäre das aber auch nicht unbedingt der Weise, denn er hätte ein leichteres Problem als die anderen.

  5.   Aus: Jutta Werner, Franz-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems.   
  6.   Aus: Jutta Werner, Franz-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems.   
  7.   Eine These von Ronald Laing war, dass Persönlichkeitsstörungen in erster Linie krankhafte Strukturen der Gesellschaft widerspiegeln. Er kritisierte vor allem auch die weit verbreitete Diagnose-Praxis der Psychiater und Therapeuten, die er als „schulmedizinische Verdinglichung“ bezeichnete. Statt einer vermeintlich objektiven Kategorisierung müssten die Phänomene existenziell mitverstanden und sogar, wenn möglich sogar mitgelebt werden. Das entspricht dem Ansatz einer ‚Verstehenden Psychologie‚, die wiederum auf den philosophischen Ansätzen der Phänomenologie und Existenzphilosophie basiert.
  8.   Vgl. auch.: Jutta Werner, Franz-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems.  S. 2 f. 
  9.   Vgl. Jutta Werner, Fran-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems
  10.   Vgl Jutta Werner, Franz-Josef Strzalka: Perspektivisches Denken und Reflexionen beim Lösen eines komplexen Problems. S. 1. 

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