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Entwicklungs-Gedicht von Hermann Hesse

Stufen

Hermann Hesse (1877 – 1962)

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Hermann Hesse: Stufen1

Hinweise

Das Gedicht beschreibt auf einzigartige Weise das archetypische Lebensprinzip des „Stirb und Werde“2Es beinhaltet Themen wie Lebensphasen, neu anfangen / Aufbruch, loslassen (loslassen vom Alten, um Neues anzufangen), Ruf des Lebens, Abschied, psychisches Gesunden.

Selbstreflexion

  • Was sagt mir das Gedicht von Hermann Hesse? Gibt es eine Botschaft darin für mich / mein Leben?
  • Woran hänge ich zu sehr? Wovon sollte ich loslassen?
  • Was behindert mein Leben?
  • Was gehört noch zu der vorigen Lebensphase und passt nicht mehr in diese?3
  • Wie bereit bin ich, neu anzufangen?
  • Was wollte ich immer schon tun, habe aber noch nie den ersten Schritt gewagt?
  • Was würde ich später bereuen, (jetzt) nicht getan zu haben?

Reflexion zur Lebens- und Laubahn-Planung

  • Was möchte ich in meiner beruflichen Laufbahn-Planung neu beginnen?
  • Wovon sollte ich loslassen / mich verabschieden, um Neues zu beginnen?
  • Was habe ich noch in meinem Leben vor? Was möchte ich er-schaffen / leisten / tun? Was möchte ich noch erlernen und (in mir) entwickeln? Was möchte ich noch erleben.

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Hintergrund-Gedanken

Aphorismen und Sprüche, die dazu passen

„Fang nie an aufzuhören, hör nie auf anzufangen.“4

„Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge.“5

„Im Anfang liegt alles“6

Gedicht von Bert Brecht
Alles wandelt sich

„Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten.

Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten, aber
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.“

– Bertolt Brecht7
Heidegger: „Im Anfang liegt alles beschlossen.“ (Die Philosophie des Anfangs)

„Etwas komplexer und philosophische drückt Heidegger die Zusammenhänge aus, wenn er meint, dass Vergangene / Gewesene in der Zukunft enthalten ist:
Das Geschehen und das Geschehende der Geschichte ist zuerst und immer das Zukünftige, das verhüllt auf uns Zukommende […], das zu sich Vorzwingende.
Das Zukünftige ist der Anfang alles Geschehens.
Im Anfang liegt alles beschlossen.
Wenngleich das Begonnene und Gewordene alsbald über seinen Anfang hinwegzuschreiten scheint, bleibt dieser – scheinbar selbst das Vergangene geworden – doch in Kraft […]“8

Das dahinterstehende Problem wird in der Philosophie als „Modaltitätenproblem9 abgehandelt: Hat das Sein / die Wirklichkeit Vorrang vor der Möglichkeit? Oder umgekehrt?10

Erkenntnis

Aus diesen literarischen und philosophischen Quellen kann gefolgert werden, dass Anfänge sehr bewusst und mit viel Bewusstsein gestaltet werden sollen. Das gilt z. B. für

  • den Anfang einer Beziehung
  • den Anfang eines Beratungs-Projekts
  • den Anfang eines Coachings
  • den Anfang eines Change-Prozesses
  • den Anfang eines Seminars / Workshops / einer Klausur

Meiner Erfahrung nach sind im Anfang solcher Prozesse sehr viel von der Gesamt-Qualität des Nachfolgenden enthalten. Reflektiert man beispielsweise im Nachhinein ein Workshop, so kommen wir oft zum Ergebnis, dass sich sehr viel von der Qualität des Gesamt-Ablaufs bereits am Anfang enthalten war. Die Frage ist dann, was man bereits wahrgenommen hat und wie bewusst dieser Anfang gestaltet wurde.

Anhang: Goethes „Stirb und Werde“

Bei den hier besprochenen Themen ist es fast ein Muss, auch Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ zu ergänzen.

Selige Sehnsucht

Selige Sehnsucht (Goethe) in der Erstausgabe

„Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang von Goethe11

 

 

  1.   Hermann Hesse: Stufen, Textinterpretation in Kevin: Stufen – Hermann Hesse – Gedichtanalyse Gedichtinterpretation, mein Lernen  
  2.   Es wird dem plutonischen Archetyp zugeschrieben. Vgl. dazu Doppelheft-Nr. 19/20: Stirb und Werde – Jung-Journal. Zur Anwendung dieses Prinzips in der Trauma-Therapie vgl. Ursula Wirtz: Stirb und werde 
  3.   Die Biographie-Forscher sagen uns, dass eine Lebensphase ca. 7 Jahre dauert.
  4.   Marcus Tullius Cicerom  römischer Dichter, Redner und Politiker, 106 – 43 v. Chr., vgl. Edward Clayton: Cicero, woxikon  
  5.   Marcus Tullius Cicero,  römischer Dichter, Redner und Politiker, 106 – 43 v. Chr., vgl. Edward Clayton: Cicero
  6.   Rüdiger Dahlke bezeichnet das ‚Gesetz vom Anfang‘ als eines der ‚Schicksalsgesetze‚ – Dahlke: Spielregeln fürs Leben. Es ist dem Gesetz der Polarität, einem der uralten ‚Hermetischen Gesetze‚ – vgl. z. B. Barbara Strohschein: Was ist der Sinn des Lebens – nachgeordnet.
  7.   aus worte-projekt: Gedichte
  8.   Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 36.  zitiert nach Constance Kolka: Heidegger und die Logik – Offenheit als Ort der Wandlung. In: S. 119-132, S. 123 f.
  9.   Vgl. dazu A. Grossmann: “Im Anfang liegt alles beschlossen”: Hannah Arendts politisches Denken im Schatten eines Heideggerschen Problems 
  10.   Vgl. die Gegenposition zu Heidegger in Hegels: „Der Anfang (ist) … das Ärmste, Abstrakteste.“ – Hegel (W 20, 510) zitiert nach Andreas Grossmann: Spur zum Heiligen. Kunst und Geschichte im Widerstreit zwischen Hegel und Heidegger, S. 97
  11.   Johann Wolfgang von Goethe, Selige Sehnsucht. in West-östlicher Divan 1819, zitiert nach wikiversity: Selige Sehnsucht; auch in Goethes Werke, Gedichte und Epen II, Hamburger Ausgabe, C.H. Beck, München 1998, S. 18–19.

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