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Stil und Störung

Melancholie. Ölgemälde des norwegischen Malers Edvard Munch. ca. 1894. Bergen. Kunstmuseum. Melancholie, die Krankheit der „Schwarzen Galle“ ist die Vorgängerkrankheit der Depression.

Wir alle haben Stärken und Potenziale in unserer Persönlichkeitsstruktur, aber auch Ecken und Kanten. Sie machen insgesamt unseren Persönlichkeitsstil aus. Gehen die Ecken und Kanten in krankhafte Extreme, dann spricht man von einer Persönlichkeitsstörung, z. B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Aber es gibt graduelle Unterschiede. Sind die Ausprägungen unter einer bestimmten Stärke, so spricht man von einem bestimmten Persönlichkeitsstil, im „PSP-Persönlichkeitsmodell“1 z. B. spricht man z. B. von einem „sprunghaften Stil“. Die Einschätzung, ob Stil oder Störung ist keine klare ja/nein-Entscheidung. Es gibt ein Kontinuum, in dem es klare Extrempositionen gibt, aber auch ein relativ weites Spektrum der Übergänge. Diese Übergänge enthalten Interpretations-Spielräumen und kulturell unterschiedlichen Einschätzungen. Was in einer Kultur als „normal“ betrachtet wird, kann in einer anderen Kultur als pathologisch gelten.

Sinnvoller Umgang mit Stilen und Störungen der Persönlichkeit

Es ist klar, dass Extremausprägungen von Persönlichkeitsstörungen klar benannt und psychiatrisch und therapeutisch behandelt werden müssen. Aber es ist Vorsicht geboten, Anderen vorschnell einen pathologischen Stempel aufzudrücken.

Sinnvoller ist es aus meiner Sicht, Andere und auch sich selbst als Persönlichkeit mit mehr oder weniger starken Ecken und Kanten zu sehen, mit denen man gut umgehen und deren Stärken man auch erkennen und anerkennen sollte. Dann ist auch in privaten und beruflichen Partnerschaften gemeinsames persönliches Wachstum möglich.

Stigmatisierung vermeiden

Jeder Persönlichkeitsstil steht einer Störung nahe. Eine Gefahr besteht darin, stärker ausgeprägte Stile bereits als Störungen zu bezeichnen und schwach ausgeprägte Störungen wie stark ausgeprägte „Psychopathien“ (so benannte man früher Persönlichkeits-Störungen) zu behandeln. Das ist deswegen von Bedeutung, weil diese häufig im Alltag stigmatisiert werden. Die Stigmatisierung erfolgt in sozialen Systemen, in der Familie / in Partnerschaften, im Beruf usw. durch Andere („Fremd-Stigmatisierung„), z. B. „Du bist ein Borderliner! – Du bist ein Problem für mich und alle anderen“. Auch wenn es offen nicht so ausgedrückt wird, ist es oft so gemeint.

Die Stigmatisierung ist oft nicht bewusst, denn sie erleichtert zwar scheinbar den Umgang mit diesen Personen. Man glaubt zu wissen, woran man ist und muss nicht mehr nachdenken, wie man miteinander auskommt. Denn wenn Schwierigkeiten im Zusammenleben auftreten, dann ist klar, dass der Andere das Problem ist. Man erkennt nur mehr die Beiträge des Anderen zu den Problemen, Konflikten und Schwierigkeiten und verschließt aber die Augen davor, dass man auch eigene Beiträge zu den Problemen liefert.

Noch schwieriger wird die Situation, wenn die Fremd mit einer Selbst-Stigmatisierung („Ich bin ein Problem für die Anderen!“, „Ich bin anderen nicht zumutbar.“) verbunden ist. Das passiert häufig und verstärkt die Schwierigkeiten im Alltag. Andreas Knuf bezeichnet das als Das „Stigma auf der Innenseite der Stirn“. Der Prozess der Entstehung des Stigmas liegt oft schon in der Kindheit2, zeigt sich in allen Lebensbereichen3, sind sehr tief verwurzelt.4 und haben viele negativen Folgen.5. Eine besonders häufige Folge der Persönlichkeits-Störungen sind Schamgefühle der Betroffenen.6. Schamgefühle führen häufig zu Rückzugs-Symptomen, und es besteht die Gefahr, dass diese mit den Symptomen der eigentlichen Persönlichkeits-Störung verwechselt werden.7

Verlust des Selbstwerts

Personen, die stigmatisiert werden und/oder sich selbst stigmatisieren, verlieren durch diese Abwertung ihren Selbstwert / ihre Selbstwertschätzung. Sie erkennen nicht mehr, dass sie im Grunde als Mensch wertvoll sind, auch wenn sie starke Ecken und Kanten in ihrer Persönlichkeitsstruktur haben und Anderen, aber auch sich selbst das Leben schwer machen.

Sie fühlen sich mit einem großen Makel, einem Schandmal behaftet, wertlos und nicht berechtigt ein glückliches Leben zu führen, eine gute Partnerschaft zu erleben und erfolgreich in ihrem Beruf zu sein. „Ich bin für andere nicht zumutbar“ ist ihre Überzeugung. In einer Art Teufelskreis erhöhen sie damit die destruktiven Muster ihrer Persönlichkeitsstruktur oder ziehen sich völlig zurück und vermeiden Sozialkontakte. In beiden Fällen führt das häufig dazu, dass ihr Unglücklichsein und das der Anderen sich weiter erhöhen.

Gemeinsame Diagnose der Persönlichkeitsstruktur / Gegenseitige Erforschung

Ein konstruktiver Umgang mit den Ecken und Kanten unserer Persönlichkeit vor allem in Partnerschaften ist es, sich selbst und den Anderen zu erforschen.

Eine der Möglichkeiten dazu ist gegenseitiges Feedback mit der Botschaft: „Ich möchte erkunden welche meiner Verhaltensweisen / Verhaltensmuster verletzen dich, nerven dich, kosten dich viel Energie, macht dir das Leben schwer?“ Dabei ist es sinnvoll, Feedbackregeln einzuhalten, um Feedback gut geben und gut annehmen zu können. Dazu gehören vor allem auch aktives Zuhören und sinnvoll nachzufragen, vor allem nach konkreten Beispielen, in welchen Situationen destruktive Verhaltensweisen gezeigt wurden. Aussagen der Art: „Du tust immer …“, „Du bist immer …“ bringen wenig Erkenntnis und wirken eher destruktiv.

Persönlichkeitsmodelle / PSP

Viele Persönlichkeitsmodelle mit ihren Diagnoseinstrumenten (Persönlichkeits-Inventare) liefern uns wertvolle Hilfestellungen zur gegenseitigen Erforschung und damit zu gegenseitigem Verständnis, das auch gegenseitige Akzeptanz fördert.

Ein Persönlichkeitsmodell, das sich direkt mit den Ecken und Kanten der Persönlichkeit, den Persönlichkeits-Störungen und Stilen beschäftigt, ist der PSP (Personality Self Portrait) von Oldham und Morris.8

Was die gegenseitige Erforschung des Partners erleichtert ist ein gewisses Maß an Ambivalenz-Toleranz. Damit ist die Bereitschaft gemeint, beim Partner zu akzeptieren, dass er nicht nur positive sondern auch negative Merkmale / Verhaltensmuster zeigt. „Wo viel Sonne ist, da ist auch viel Schatten“ (und umgekehrt) wäre ein sinnvolles Motto dafür.

Zusätzlich ist es sinnvoll zu besprechen und zu vereinbaren, wie destruktive Verhaltensmuster verringert werden kann und auch wie es gelingen kann, bei Partner ein gewisses Maß an destruktiven Mustern akzeptiert werden kann. Es geht nicht darum, diese negativen Seiten völlig zu beseitigen, sondern vor allem konstruktiv damit umgehen zu können.

Symbole statt Vorwürfe

Auch wenn die gegenseitige Erforschung der Persönlichkeitsstruktur gelungen ist und Vereinbarungen über einen positiven Umgang damit vereinbart wurden, muss damit gerechnet werden, dass die Destruktivität völlig verschwindet.

Die eigenen Muster sind der Person aber oft nicht bewusst.  Aber sie kommen beim Partner oft deutlich an. Werden sie ad hoc rückgemeldet, so wird das häufig als Vorwurf erlebt, selbst wenn er nicht so gemeint war.

Daher ist es sinnvoll, bestimmte Zeichen zu vereinbaren, wenn die Negativität beim Partner so erlebt wird. Das können z. B. ritualisierte Worte oder Sätze sein, z. B. „Bitte stop jetzt.“ oder auch eine bestimmte Geste, z. B. vorgestreckte Hand mit aufgestellter Hand – als Stop-Symbol. Aus meiner Erfahrung sind Gesten mit Gegenständen für das Aufmerksam-Machen gut geeignet, z. B. eine bestimmte Porzellanfigur in greifbarer Nähe auf den Tisch stellen.

Querverweise

 

Links und Literatur

The New Personality Self-Portrait

John Oldham, Lois B. Morris: The New Personality Self-Portrait. Why You Think, Work, Love and Act the Way You Do. Random House Publishing Group, 2012 – Basis DSM IV (deutsch: Ihr Persönlichkeits-Portrait. warum Sie genauso denken, lieben und sich verhalten, wie Sie es tun. Klotz 2010 – Basis DSM III)

Francois LelordChristophe André: Der ganz normale WahnsinnVom Umgang mit schwierigen Menschen. Aufbau Digital2015

 

Stigma, Stigmatisierung

Andreas Knuf: Das Stigma auf der Innenseite der Stirn. In: www.andreas-knuf.de. download: https://www.andreas-knuf.de/app/download/15557663924/Selbststigmatisierung_auf_der_Innenseite_der_Stirn.pdf?t=1584607624. Internet-Site mit aktuellen Artikeln, Büchern und Kursangeboten von Andreas Knuf: https://www.andreas-knuf.de/.

  1.  
  2.   Der Prozess der Selbststigmatisierung aus: Andreas Knuf „Stigma auf der Innenseite der Stirn“

    „Wir Menschen sind soziale Wesen. Werte und Überzeugungen lernen wir von anderen. Besonders in unserer Kindheit übernehmen wir Beurteilungen und Überzeugungen von anderen Menschen schnell, aber auch als Erwachsene orientieren wir uns an den Bewertungen unserer Umgebung. Die von außen kommenden Einschätzungen und Überzeugungen integrieren wir in unser Selbst, fortan sind sie Teil unserer Person. Wir haben dann keinerlei Abstand mehr zu diesen Bewertungen. Bereits in frühen Jahren passiert es, dass wir auch uns selbst durch diese von außen stammende Brille betrachten und beurteilen. In uns entwickelt sich eine Instanz, die wir als „inneren Kritiker“ bezeichnen könnten. Er beurteilt unser Verhalten ständig („Du könntest besser sein.“ „Die anderen mögen dich nicht so wie du bist.“ „Streng dich mehr an.“). In der Psychoanalyse wird diese Instanz als Über-Ich bezeichnet. Der innere Kritiker ist fast immer „eingeschaltet“, wird aber besonders dann aktiviert, wenn in unserem Leben etwas schief läuft. Wenn also beispielsweise ein Mensch arbeitslos wird oder psychisch erkrankt, erhält diese Bewertungsinstanz zusätzliches ‚Futter‘.“

  3.   Stigmatisierung in allen Lebensbereichen aus: Andreas Knuf „Stigma auf der Innenseite der Stirn“

    Diese Beurteilungen beziehen sich auf alle Bereiche des Lebens und Verhaltens:

    • Wie sollte ich mich richtigerweise verhalten?
    • Wie sollte ich mich kleiden?
    • Wie denke ich über bestimmte Bevölkerungsgruppen usw.

    Ein Teil dieser Einschätzungen bezieht sich auch auf psychisch kranke Menschen. Solche Beurteilungen sind universell, d.h. fast jeder Mensch hat sie. Einschätzungen wie „Nimm dich vor Verrückten in Acht.“ oder „Einmal krank immer krank.“ haben also mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch Menschen, die selber psychisch erkranken. Wenn ich nun selber psychisch erkranke wird diese Beurteilung gegen mich selber gerichtet und mit der Beurteilung richtet sich auch die negative Wirkung gegen mich selber. Habe ich beispielsweise die Einschätzung „Psychisch Kranke haben einen schwachen Charakter. Aus ihnen kann nie was werden.“ so wandelt sich diese allgemeine Aussage nun um in: „Ich habe einen schwachen Charakter, aus mir wird nie was werden.“ Solche Einschätzungen bezeichnen wir als Selbststigmatisierung. Andere Selbststigmatisierungen können sein: „Ich bin weniger wert als die anderen“, “Ich bin gefährlich für die anderen“, „Psychische Erkrankungen sind eine Strafe Gottes für Sünden“, „Wer psychisch krank wird, ist daran selber schuld“.

  4.   Tiefe Verwurzelung der Selbst-Abwertung aus: Andreas Knuf „Stigma auf der Innenseite der Stirn“

    „Da diese Bewertungen früh erworben wurden und größtenteils gesellschaftlicher Konsens sind, sind sie sehr tief verwurzelt. Für den Betroffenen bedeutet dies, dass er sich dieser Bewertungen nur schwer entledigen kann, auch wenn er real andere Erfahrungen macht. So kann etwa das Stereotyp „Psychisch kranke Menschen sind faul“ stärker sein als die eigene Erfahrung, sich alle erdenkliche Mühe zu geben und sich sehr anzustrengen.“

  5.   Negative Folgen der Selbstabwertung und Selbstverurteilung: 

    „Wenn sich ein Mensch selbst für seine psychische Erkrankung verurteilt, so hat das zahlreiche negative Folgen für ihn. Bei Vielen stellt sich dann eine erhöhte
    Selbstaufmerksamkeit ein. Sie beobachten sich selber sehr intensiv und sind schnell geneigt, ihr Verhalten als Ausdruck der psychischen Erkrankung zu interpretieren („Es geht wohl wieder los bei mir.“ „Das ist ja total verrückt, was ich da vorhin gemacht habe.“) Eine solche Selbstbeobachtung macht unfrei und lähmt. Zudem kann eine ständige Selbstbeobachtung ein paranoides Denken und eine paranoide Wahrnehmung fördern („Die anderen schauen so komisch, die wissen, dass du schon mal in der Psychiatrie warst.“) Aufgrund der Selbstverurteilung entsteht bei vielen Betroffenen der Wunsch, möglichst normal zu wirken um ja nicht aufzufallen und als krank zu gelten. Der betroffene Mensch erlaubt sich dann auch kleinere Verrücktheiten nicht mehr, was häufig zu einem Verlust von Lebendigkeit und Spontaneität führt.“

  6.   Schamgefühle als Folge von Persönlichkeits-Störungen aus: Andreas Knuf „Stigma auf der Innenseite der Stirn“:

    „Ich schäme mich so“
    „Eine besonders häufig vorkommende Folge der eigenen psychischen Erkrankung sind Schamgefühle. Es gibt zahlreiche Gründe für Schamgefühle bei psychisch beeinträchtigen Menschen. Der Betroffene kann sich dafür schämen, dass er überhaupt psychisch erkrankt ist. Weiter können Schamgefühle auftreten aufgrund des Verhaltens während der akuten Krisenzeit, vor allem bei Erinnerungslücken oder bei aggressivem oder moralisch zweifelhaftem Verhalten. Große Schamgefühle verursacht auch die Tatsache, in einer psychiatrischen Klinik gewesen zu sein, besonders dann, wenn es dort zu Gewalt- und Zwangsmaßnahmen kam. Schamgefühle sind völlig normal und treten zumeist erstmals dann auf, wenn jemand aus seiner psychotischen Welt wieder auftaucht. Sie zeigen dann, dass der betroffene Mensch wieder in der Lage ist, sich in andere Menschen
    hineinzuversetzen. In dieser Phase weisen sie darauf hin, dass jemand seine psychotische Krise überwunden hat. Sie verdienen damit eine Wahrnehmung und positive Würdigung. Wenn sie länger anhalten haben sie jedoch zahlreiche negative Folgen.“

  7.   Symptom-Verwechslung bei Schamgefühlen: aus: Andreas Knuf „Stigma auf der Innenseite der Stirn“:

    „Wenn wir Menschen uns schämen würden wir am liebsten im Boden versinken, möchten uns den Blicken der anderen entziehen, oder gar unsichtbar sein. Vor Scham kann man sich verstecken, sich von anderen zurückziehen, was bis zur sozialen Isolierung reichen kann. Diese typischen Schamreaktionen treten natürlich auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen bzw. mit Psychiatrieerfahrung auf. Teilweise haben diese Reaktionsweisen große Ähnlichkeit mit Symptomen der auslösenden psychischen Erkrankung und werden daher manchmal damit verwechselt. Zieht sich jemand von seiner Umwelt zurück aufgrund einer psychotischen Erkrankung und der damit verbundenen Negativsymptomatik? Oder ist der Rückzug Folge der ihn belastenden Schamgefühle? Dies klar zu unterscheiden ist kaum möglich. Die klassische Psychiatrie ist aber schnell versucht, entsprechende Verhaltensweisen zu pathologisieren und als Teil einer psychiatrischen Erkrankung zu interpretieren.“

  8.   Vgl. John Oldham, Lois B. Morris: The New Personality Self-Portrait.

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