Entwicklungsfilme und Movie Therapy

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I don’t know about your brain-
But mine is really bossy …
And then I hear this voice
Comin from the back of my head Uh huh
(Whoa-ho) Yep! It’s my brain again

And when my brain talks to me, he says: …
Take me to the movies
‚Cause I love to sit in the dark …
Laurie Anderson: Babydoll1

Was sind Entwicklungsfilme?

Entwicklungsfilme sind Filme, in dem ein oder mehrere Hauptdarsteller (Protagonisten) persönliche Entwicklungsschritte erfahren. Sie können dazu eingesetzt werden, um eigene Entwicklungsschritte zu reflektieren, anzustoßen oder zu unterstützen – in einem therapeutischen oder auch in einem Alltags-Setting.

Film-Therapie: Therapeutisches Setting mit Entwicklungsfilmen

Filme werden in der Movie Therapy  (Cinema Therapy, Reel Therapy) eingesetzt. Es gibt unterschiedliche Ansätze dazu2 Neben dem Lesen von literarischen Werken (vor allem Entwicklungsromanen) kommt hier auch das Schreiben von eigenen literarischen Texten zum Einsatz. Sie wurde im deutschsprachigen Raum vor allem von Hilarion Petzold im Rahmen seiner ‚Integrativen Therapie‘3 4 5 weiterentwickelt.6

Bibliotherapie hat eine lange Tradition – ursprünglich ohne so genannt zu werden. Schon Johann Wolfgan von g Goethe schreibt mit seinem Festspiel „Lila“ ein therapeutisches Werk, ein Stück zur Heilung eines „Wahnsinns“ durch „psychische Kur“: Das Mädchen Lila wird aus Liebeskummer über den vermeintlichen Tod ihres abwesenden Gatten verrückt, sie beginnt an Wahnvorstellungen zu leiden. Sie sieht die Menschen als Geister, die ihr Angst machen und versteckt sich in einem Park. Ihre Freunde wollen ihr helfen und finden einen Weg. Sie nehmen ihre Ängste ernst und spielen diese Phantasie-Figuren als Monster, Zauberer und Feen (als Teil einer ’nicht-alltäglichen Wirklichkeit‘ in einer ‚psychischen Kur´). Sie spielen die „Geschichte ihrer Fantasien“7 Sie befreien sie aus den Händen eines ‚Ogar‘ und kehren mit ihm in die ‚alltägliche Wirklichkeit‘ zurück.

Goethe in der Römischen Campagna (Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1787)

Goethe schrieb dieses Stück 1977 am Weimarer Hof und beabsichtigte damit (auch) eine therapeutische Wirkung für die dortige Herzogin Luise, die in einer unglücklichen Lebenssituation, unglücklich vermählt war. Er spielte am hiesigen Theater in diesem Stück selbst die Rolle des ‚Dr. Verazio‘ und zeigt dabei der unglücklichen Herzogin Wege, wie sie mit dieser Situation konstruktiv umgehen kann.8

Filminterpretation: Mögliche Vorgangsweise

Eine einfache Möglichkeit zur Interpretation von Entwicklungsfilmen ist folgende Vorgangsweise.

(a) Betrachtung der Ausgangssituation.
Welche Verhaltensweisen zeigt der Protagonist? Welches Leben führt er? Welche Schwierigkeiten, Probleme zeigen sich darin? Welche Schwächen werden sichtbar? Wie würde sich das Leben der betreffenden Person fortsetzen, wenn keine Entwicklungsschritte erfolgen würden?

(b) Analyse der Entwicklungsschritte
Wo setzt Entwicklung ein? Was ist der Startpunkt der Entwicklung (point of no return)?  Welche weiteren Entwicklungsanlässe gibt es? Was wird dabei gelernt / entwickelt? Wer sind die Unterstützer der Protagonisten, wer sind die Antagonisten / Gegenspieler? Wie tragen sie zur Entwicklung der Protagonisten bei?

(c) Endpunkt (Zielpunkt, ‚Angekommen‘)
Wo kommen die Protagonisten am Ende der Entwicklungsreise an? Was ist die Differenz zum Anfangspunkt? Was ist ‚erledigt‘, was bleibt noch offen? Wie könnte das Leben der Protagonisten im Hinblick auf ein gelingendes Leben weitergehen?

Zentraler Fokus für die Selbstreflexion bzw. die Reflexion im Coaching-Prozess

Was ist der zentrale Ausgangspunkt, damit Filme für die eigene Entwicklung wirksam werden (bzw. für die Entwicklung des Klienten im Coaching-Prozess)?

Zentraler Fokus ist das Erleben: das eigene Erleben bzw. das Erleben des Klienten beim Anschauen des Filmes und bei der Reflexion danach: Wie habe ich den Film erlebt, was ist innerlich in mir vorgegangen – beim Ansehen des Films und danach. Wie habe ich den Film erlebt, wie die Protagonisten, die Ereignisse / Szenen?

Dazu helfen einige Diagnosefragen:

  • Mit wem im Film identifiziere ich mich? Wer ist mir ähnlich? Wer ist mir sympathisch?
  • Wer / was ärgert mich, berührt mich, stößt mich ab, löst Emotionen aus, …?
  • Welche Erinnerungen kommen hoch? An wen erinnert mich welche Person im Film? Wo habe ich ähnliche oder auch konträre Situationen erlebt?

Filme in der Alltags-Entwicklung

„Was uns nicht berührt,
verwandelt uns nicht.“
C. G. Jung.

Entwicklungsfilme können ihren Entwicklungspotenzial nicht nur in einem klassischen Therapie-Setting verwendet werden. Sie wirken auch in einem Alltags-Entwicklungskontext. Man sieht sich Filme allein oder mit anderen an und reflektiert / diskutiert sie anschließend, lässt sie nachwirken.

Unterstützend ist dabei unter anderem, …

  • wenn der Film mit anderen angesehen und anschließend besprochen wird.
  • wenn eigene Themen im Zusammenhang mit Filmthemen reflektiert / diskutiert werden.
  • wenn man den Film mehrmals sieh
  • Wenn man im Film nicht zu viel denkt oder sogar bewertet, sondern wenn man „mit dem Film mitgeht“, mit den Personen mitfühlt, sich in den Film und seinen Szenen hinein versetzt. Eine geeignete Analogie ist: „den Film sehen und erleben wie ein Kind“.

Persönliche Erfahrungen und Hinweise

  • Auf mich wirken Filme besonders gut, wenn ich sie zum 2. oder 3. Mal sehe. Beim ersten Mal bin ich noch zusehr mit der Verfolgung der Handlung beschäftigt. Beim 2. oder 3. Mal kann ein „innerer Parallel-Film“ mit eigenen Erfahrungen, Erinnerungen usw. mitlaufen
  • Besonders aufschlussreich ist der Beginn des Films, wo der Ausgangspunkt geklärt wird. Manchmal sehe ich mir gleich nach dem Ende des Films den Beginn noch einmal an, das ist für mich oft sehr erkenntnisreich.
  • Ein aktueller Entwicklungsfilm ist z. B. Toni Erdmann.
  • Nützliche Hinweise für Film-Hintergründe finden sich vor allem in imdb (Internet Movie Database).
  • Ein besonders interessanter Ansatz zur Interpretation von Entwicklungsfilmen (und zum Schreiben von wirkungsvollen Drehbüchern) stammt von Christopher Vogler. Vogler interpretiert in ‚The Writers Journey – Mythic Structures for Writers‘ die Entwicklungsreise als Heldenreise nach dem Schema einer mythologischen Heldenreise. Das Basismodell dazu stammt vom klassischen Mythen-Forscher  Joseph Campbell. Er interpretiert die mythologische Heldenreise vom ‚Ruf des Abenteuers‘ bis zu einer neuen ‚Freiheit des Lebens‘ und betont dabei vor allem die tiefenpsychologischen Grundmuster. Sie werden derzeit nicht nur im englischsprachigen sondern auch im deutschsprachigen Raum diskutiert und weiter entwickelt.
  • Viele Hinweise zu ‚Filmdeutungen‘ und interessante Beispiele verdanke ich Bruce Werber und Claudia Fried, einem Künstlerpaar, das sich dem Rhythmus verschrieben hat.
  • Eine sehr interessante Diplomarbeit an der WU Wien für den Einsatz von Filmen im Coachings- / Beratungs-Kontext mit Hinweisen auf Ansätze der Movie Therapy stammt von Julia Pichler: Der Einsatz von Spielfilmen in Coaching-Prozessen
  • Philosophische Hintergründe zur Film-Interpreation finden sich in der Bild-Philosophie von Gilles Deleuze.9 Er interpretiert Regisseure als Philosophen, die statt in Worten und Begriffen in Bildern und Tönen denken.10

Querverweise

  1.  Laurie Anderson: Babydoll, Lyrics. Anregung aus Schaub, Mirjam:   Gilles Deleuze im Kino: das Sichtbare und das Sagbare
  2. vgl. Teischel, Filmdeutung, Selbst) und Listen von geeigneten Filmen und angesprochenen therapeutischen Themen werden erstellt, z. B. von Ofer Zur & Birgit Wolz.

    Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um eine Therapieform, in der der Therapeut dem Klienten einen Film ‚verschreibt‘. Der Klient sieht sich diesen Film (zu Hause) an und bespricht und reflektiert seine Erfahrungen später (z. B. am nächsten Tag) mit seinem Klienten.

    Diese Besprechung bringt Projektionen, Erinnerungen, unverarbeitete Erlebnisse, persönliche Muster … zu Tage und hilft bei deren Verarbeitung. Verursacht der Film auch Emotionen, so kann das Anschauen des Films bereits als therapeutische Intervention gesehen werden („Katharsis“).

    Bilbliotherapie

    Natürlich sind nicht nur Filme sondern auch andere Kunstwerke als Impulsgeber für Entwicklungsprozesse bzw. therapeutische Prozesse geeignet, vor allem literarische Werke, wie sie in der Biblio-Therapie (Poesie-Therapie) verwendet werden.[1.

  3. Mit der grundlegenden anthropologischen Formel: „Der Mensch als Mann und Frau ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen (=Leib-Subjekt) im sozialen und ökologischen Kontext im Zeitkontinuum.“ Petzold, Wörterbuch
  4. vgl. Petzold, Methodenkompetenz, Orth/Petzold, Gruppenprozessanalyse
  5. Interessant im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung ist vor allem seine Hinweise zur ‚Weisheitstherapie‘, die vor allem Lebensstil-Veränderungen und eine ‚weise Lebensführung‘, wie sie schon von den antiken Meistern gelehrt wurde. vgl. Petzold u.a. Tradition, insbes. S. 40
  6. Gemeinsam mit Ilse Orth gründete er die ‚Deutschsprachigen Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie, kreatives Schreiben und Biographiearbeit‘
  7. Huber, Lila
  8. vgl. Stellwerk, Lila
  9.   vgl. Schaub, Mirjam:   Gilles Deleuze im Kino: das Sichtbare und das Sagbare
  10.    vgl. dazu auch das Kapitel „Film as Philosophy“ in „Philosophy of Film“ der Stanford Encyclopedia of Philosophy, Interessante philosophische Abhandlungen zur Philosophie von Deleuze  finden sich in „DAS ABC …“ von Gille Deleuze mit Claire Parne, einen Überblick über das Werk von Deleuze findet sich in „Gilles Deleuze“ in der Stanford Encyclopedia of Philosophy sowie in Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Wunderland 

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