Ambiguitätstoleranz – Materialien

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Einige Forschungs-Schwerpunkte und -Ergebnisse zur Ambiguitätstoleranz

Obwohl die Forschungen bereits lange zurück liegen (Else Frenkel-Brunswick 19491), ist das Thema hochaktuell und die Forschungsprojekte sind beträchtlich.

 

Beispiel: Neurowissenschaften (Oriel FeldmanHall)

„Meine Absichten, meine Gedanken, meine Sichtweise, meine Gefühle, meine Erfahrungen liegen vor Ihnen verborgen. Sie wissen nicht, was ich tatsächlich denke. Vielleicht sage ich ja die Wahrheit, aber vielleicht sage ich Ihnen nicht alles“, sagt Oriel FeldmanHall. „Sie begegnen der neuen Kollegin zum ersten Mal. Sie hat doch gelächelt? Oder haben Sie das nicht wirklich gesehen? Wie deuten Sie das? Solch ambige Signale empfangen wir und müssen immerzu schlussfolgern, wie andere Menschen denken, was genau sie denken und welche Meinung sie vielleicht von uns haben. Genau das ist ambige Ungewissheit.“ …

Oriel FeldmanHall sitzt in ihrem „Lab“, dem Labor für Neurowissenschaften an der Brown University in Providence im Staat Rhode Island, einer der wenigen Spitzen-Universitäten der USA in der sogenannten „Ivy League“, der „Efeu-Liga“. Die junge Psychologieprofessorin erforscht Ambiguitätstoleranz.

Im Jahr 2018 veröffentlichte FeldmanHall Ergebnisse ihrer Experimente über die Auswirkung von Ambiguitätstoleranz auf das Zusammenleben. Ihr Artikel erregte sofort einiges Aufsehen in den amerikanischen Medien. Dies mit einem betagten, aber keinesfalls angestaubten Konstrukt der Psychologie. Im Jahr 1949 entdeckte Else Frenkel-Brunswik die Ambiguitätstoleranz, als sie Kinder in einer Tagesstätte beobachtete. Schon bald galt die „tolerance of ambiguity“ in der Psychologie als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal: als eine messbare Eigenart des einzelnen Menschen, die sich im Laufe eines Lebens kaum mehr ändert.2

Beispiel: Ambiguität in der Familientherapie

„Ich glaube, das betrifft unser ganzes Zusammenleben mit anderen Menschen. Das fängt an, dass wir als Kind mit Eltern aufwachsen, die wir lieben. Aber wir lieben unsere Eltern ja auch nicht immer. Es gibt Momente, in denen lieben wir sie weniger als in anderen Momenten. Und das zieht sich durch unser ganzes Leben hindurch. Das heißt, diese Erfahrung gegenüber unseren Mitmenschen zu haben, die ist alltäglich und der entkommen wir nicht. Das ist überhaupt das Wesen der Ambiguität, dass wir einfach nicht entkommen können.“ (Thomas Bauer)2

Beispiel: Ambiguität in den Religions- und Gesellschafts-Wissenschaften (Thomas Bauer)
Islamforschung
Thomas Bauer hat entspannt am Besprechungstisch seines kleinen Arbeitszimmers an der Universität Münster Platz genommen, vor sich ein Gläschen Wein, um sich herum altarabische Schriften. Der Professor für Islamwissenschaft befasst sich seit den 1990er-Jahren mit der Ambiguitätstoleranz. Den Anstoß gaben Begegnungen mit verblüffend mehrdeutigen Schriften von Gelehrten des alten Arabien.
Im Jahr 2011 erschien sein Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“. Diese Gelehrten waren sehr strukturierte und koranfeste Denker, zugleich aber den schönen Dingen des Lebens sehr zugetan: dem Wein, der Poesie, der Erotik. Das ging damals offenbar schon lange Zeit, noch bis vor mehr als zwei Jahrhunderten, problemlos zusammen – auch wenn das landläufige Bild vom Islam heute ein ganz anderes sein mag. Fast gleichzeitig mit Oriel FeldmanHalls Aufsatz veröffentlichte Thomas Bauer im Frühjahr 2018 ein Essay über Ambiguitätstoleranz. Dieser kleine Band trug den Titel „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“. Bauer traf einen Nerv. Schon nach einem halben Jahr waren 30.000 Bücher verkauft.
Populismus (Thomas Bauer)

Umgang mit Fremden (Bauer, Baethge)

Menschen, so die Vorstellung Thomas Bauers, entgehen der Ambiguität in Politik und Gesellschaft, indem sie niemandem mehr ihr Vertrauen schenken und so ihr ganz eigenes Weltbild aufrechterhalten:
„Also, die Wahrheit liegt in mir selber. Ich kann es aufrechterhalten, indem ich Autoritäten generell ablehne. Heute laufen die Leute diesen Populisten hinterher, weil sie Autoritäten zerstören, weil sie sagen: ‚Ihr müsst den Politikern nix glauben, die sind alle korrupt. Ihr müsst den Wissenschaftlern nichts glauben. Das ist alles manipuliert.‘ Ja? Damit werden alle Autoritäten eigentlich zerstört. Und ich kann jetzt reinen Gewissens sozusagen mich selber als Autorität nehmen, das, was mein Bauchgefühl mir aus irgendwelchen Gründen erzählt. Das ist die eigentliche Versuchung des Populismus. Es ist nicht dieselbe Totalitarismusfalle, die wir vor einem halben Jahrhundert, einem Jahrhundert hatten.“
Wenn es um Zuwanderer geht, haben Populisten besonders leichtes Spiel bei solchen Menschen, die Mehrdeutigkeit nicht ertragen können oder wollen:
„Zu dem Thema des Fremden hat Zygmunt Bauman, der polnische Philosoph, schon sehr Wesentliches gesagt. Er sagte, dass der Fremde eigentlich eine problematischere Kategorie ist als der Feind. Der Feind ist eindeutig der Feind auf der anderen Seite, und der Freund ist eindeutig auf meiner Seite. Aber der Fremde ist weder Feind noch Freund, sondern eine schwer zuzurechnende Kategorie. Also das heißt, der Fremde ist immer etwas Ambiges.“2
Beispiel: Ambiguität in der Psychiatrie und Psychotherapie (Christopher Baethge)
„Ambiguitätsintoleranz entsteht ja auch leicht auf dem Boden von persönlicher Unsicherheit und Unsicherheitsabwehr. Insofern ist es eine der Psychiatrie oder auch der Psychotherapie überhaupt nicht fremde Konzeption.“
Christopher Baethge spricht über Ambiguitätstoleranz in den Räumen des Deutschen Ärzteblatts in Köln, wo er die medizinisch-wissenschaftliche Redaktion leitet. Und er ist auch Professor für Psychiatrie der Universität zu Köln sowie ärztlicher Psychotherapeut. Ihn treibt seit spätestens 2004 die Ambiguitätstoleranz um. Damals veröffentlichte er Beobachtungen aus den USA:
„Mein Eindruck war, dass die amerikanischen Männer besonders tief und kernig sozusagen sprechen und die amerikanischen Frauen eher hohe Stimmen kultivieren. Und ich hab’s so interpretiert, dass damit die Geschlechterstereotypen unterstützt werden sollen: der männliche Mann, die weibliche Frau.“
Baethge beobachtete auch, dass es beim Baseball oder Football immer klare Gewinner gibt, nichts Unentschiedenes wie so mancher Spielausgang im europäischen Fußball.
Thema Migranten / Wahlverhalten (Baethge) – einfache Antworten
„Man kann Migranten sehen als Konkurrenten um Wohnungen, um Arbeitsplätze, und man kann Migranten sehen als sehr bereichernde Träger von anderen kulturellen Eigenschaften bzw. in der Regel sehr freundliche und nette Menschen“, so Baethge. „Und beide Eigenschaften sozusagen zu sehen und sich nicht auf beispielsweise die reine Ablehnung von Migranten als Konkurrenten zurückzuziehen, das wäre Ambiguitätstoleranz in meinen Augen.“
Christopher Baethge kommt im Gespräch über Ambiguitätstoleranz nach weniger als einer Minute ungefragt auf diese Schlüsselfrage der heutigen Gesellschaft, den Umgang mit Zuwanderung. Vom Wunsch nach Eindeutigkeit ist es nicht weit zu den einfachen Antworten:
„Einfache Antworten sind eine Möglichkeit, Ambiguität eben nicht aufkommen zu lassen. Insofern ist Radikalität ein gutes Mittel gegen Ambiguität. Weil eine radikale Einstellung, eine einfache Antwort in gewisser Weise Ambiguitäten gar nicht aufkommen lässt. Und das ist sicherlich eine wesentliche Triebkraft für radikale Einstellungen.“
Ist das Gegenteil von Ambiguitätstoleranz, die ausgeprägte Ambiguitäts-Intoleranz, krankhaft? Der starke Wunsch nach den eindeutigen, letzten Antworten vielleicht sogar eine psychische Erkrankung – pathologisch, wie Ärzte das nennen würden?
„Ambiguitäts-Intoleranz an sich ist kein pathologisches Phänomen“, meint Christopher Baethge. „Also, extreme Ambiguitäts-Intoleranz ist eine extreme Ausprägung einer eigentlich menschlichen Eigenschaft. Es gibt vielleicht sogar auch den Punkt, wo sie ins Pathologische geht, aber dann wahrscheinlich eher im Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen, zum Beispiel einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.“
Was an Ambiguitäts-Intoleranz so menschlich ist? Ein Mensch, der Mehrdeutigkeit vermeidet, sich sogar radikales Denken zu eigen macht, zieht daraus einen Vorteil. Aber er zahlt dafür auch einen Preis:
„Er hat nicht die Spannung, die es bedeutet, Ambivalenzen aushalten zu müssen. Er hat im Grunde eine Entlastung, eine psychische Entlastung als Gewinn. Und es entgeht ihm natürlich die Möglichkeit, die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Schattierungen wahrzunehmen und auch darauf zu reagieren. Und das ist natürlich auch eine Behinderung.“2
Wahlverhalten (Bauer)
„Viele Leute gehen halt gar nicht mehr wählen zum Beispiel, weil sie sagen, es gibt keine Partei, die das, was ich vertrete, auch so hundertprozentig vertritt. Das ist das Ende der Demokratie natürlich. Denn keine Partei vertritt hundertprozentig das, was ich selber vertrete, das vertrete nur ich selber. Und ich selber bin keine Partei, ich kann mich ja nicht selber wählen. Also, das heißt: Demokratie lebt davon, dass man Ambiguität in Kauf nimmt“, sagt Thomas Bauer.
Er sieht einen großen Unterschied zwischen dem politischen Populismus von heute und dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts:
„Populismus ist eine sehr, ich möchte sagen: geniale Strategie, Ambiguität wegzubekommen. Aber die Leute, die Salvini, Le Pen und wie sie alle heißen, hinterherlaufen, würden nie ihr ganzes Leben opfern, wie Anhänger von Hitler und Stalin das taten. Aber sie haben einfache Antworten, und sie haben etwas, was auch interessant ist: Wie entkommt man Ambiguität als Bürger sozusagen? Einerseits natürlich, ja, indem ich einer Führerfigur hinterherlaufe. Das war der Ansatz damals. Als Frenkel-Brunswiks Ideen in die Studie der autoritären Persönlichkeit einflossen, war das natürlich das interessantere Thema. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, nämlich sich ganz auf sich selber zurück zu beziehen.2
Autoritäten – der Fremde – der Feind (Bauer)
Menschen, so die Vorstellung Thomas Bauers, entgehen der Ambiguität in Politik und Gesellschaft, indem sie niemandem mehr ihr Vertrauen schenken und so ihr ganz eigenes Weltbild aufrechterhalten:
„Also, die Wahrheit liegt in mir selber. Ich kann es aufrechterhalten, indem ich Autoritäten generell ablehne. Heute laufen die Leute diesen Populisten hinterher, weil sie Autoritäten zerstören, weil sie sagen: ‚Ihr müsst den Politikern nix glauben, die sind alle korrupt. Ihr müsst den Wissenschaftlern nichts glauben. Das ist alles manipuliert.‘ Ja? Damit werden alle Autoritäten eigentlich zerstört. Und ich kann jetzt reinen Gewissens sozusagen mich selber als Autorität nehmen, das, was mein Bauchgefühl mir aus irgendwelchen Gründen erzählt. Das ist die eigentliche Versuchung des Populismus. Es ist nicht dieselbe Totalitarismusfalle, die wir vor einem halben Jahrhundert, einem Jahrhundert hatten.“
Wenn es um Zuwanderer geht, haben Populisten besonders leichtes Spiel bei solchen Menschen, die Mehrdeutigkeit nicht ertragen können oder wollen:
„Zu dem Thema des Fremden hat Zygmunt Bauman, der polnische Philosoph, schon sehr Wesentliches gesagt. Er sagte, dass der Fremde eigentlich eine problematischere Kategorie ist als der Feind. Der Feind ist eindeutig der Feind auf der anderen Seite, und der Freund ist eindeutig auf meiner Seite. Aber der Fremde ist weder Feind noch Freund, sondern eine schwer zuzurechnende Kategorie. Also das heißt, der Fremde ist immer etwas Ambiges.“2
Autoritäten, Populismus, Zuwanderer, Fremde
Menschen, so die Vorstellung Thomas Bauers, entgehen der Ambiguität in Politik und Gesellschaft, indem sie niemandem mehr ihr Vertrauen schenken und so ihr ganz eigenes Weltbild aufrechterhalten:
„Also, die Wahrheit liegt in mir selber. Ich kann es aufrechterhalten, indem ich Autoritäten generell ablehne. Heute laufen die Leute diesen Populisten hinterher, weil sie Autoritäten zerstören, weil sie sagen: ‚Ihr müsst den Politikern nix glauben, die sind alle korrupt. Ihr müsst den Wissenschaftlern nichts glauben. Das ist alles manipuliert.‘ Ja? Damit werden alle Autoritäten eigentlich zerstört. Und ich kann jetzt reinen Gewissens sozusagen mich selber als Autorität nehmen, das, was mein Bauchgefühl mir aus irgendwelchen Gründen erzählt. Das ist die eigentliche Versuchung des Populismus. Es ist nicht dieselbe Totalitarismusfalle, die wir vor einem halben Jahrhundert, einem Jahrhundert hatten.“
Wenn es um Zuwanderer geht, haben Populisten besonders leichtes Spiel bei solchen Menschen, die Mehrdeutigkeit nicht ertragen können oder wollen:
„Zu dem Thema des Fremden hat Zygmunt Bauman, der polnische Philosoph, schon sehr Wesentliches gesagt. Er sagte, dass der Fremde eigentlich eine problematischere Kategorie ist als der Feind. Der Feind ist eindeutig der Feind auf der anderen Seite, und der Freund ist eindeutig auf meiner Seite. Aber der Fremde ist weder Feind noch Freund, sondern eine schwer zuzurechnende Kategorie. Also das heißt, der Fremde ist immer etwas Ambiges.“2
Ambiguität in den Gesellschaftswissenschaften (Else Frenkel-Brunswik)
Die USA also als das Land der Vereindeutiger? Dieses Land war es, in dem Else Frenkel-Brunswik die Ambiguitätstoleranz als psychologisches Persönlichkeitsmerkmal entdeckte.
Geboren wurde sie 1908 im Lemberg des alten Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg in Wien ließ sie sich zur Wissenschaftlerin und Psychoanalytikerin ausbilden. In den USA fand sie Schutz vor dem Morden der Nationalsozialisten, bei denen das Überleben davon abhing, dass man eindeutig kein Jude war. Unter diesem Eindruck der schrecklichen Vereindeutiger aus Deutschland stand die Forscherin, als sie 1950 zusammen mit Theodor Adorno und anderen die Idee von der autoritären Persönlichkeit veröffentlichte: von Persönlichkeitseigenschaften, die Menschen zu Feinden der Demokratie machen. Und unter eben diesem Eindruck stand sie auch 1949, als sie die Ambiguitätstoleranz entdeckte.2

Literatur und Links

Ambiguitätstoleranz / tolerance of ambiguity / TOA

Wolfgang Streitbörger: Mut zur Mehrdeutigkeit. Aus: swr.de. Stand 27. 11. 2020. 7. 6. 2019. (Audio in www.swr.de., Stand 8. 12. 2020. https://www.swr.de/swr2/wissen/mut-zur-mehrdeutigkeit-100.html.)

Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz. Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben. In: Deutschlandfunk Kultur. 8. 1. 2020. https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828.

  1.   Vgl. die Hinweise im Beitrag „Ambiguitätstoleranz als soziale Kompetenz – mit Mehrdeutigkeit und Widersprüchen umgehen können
  2.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  3.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  4.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  5.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  6.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  7.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  8.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    
  9.   Aus:  Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz.    

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