Veränderungen ohne Widerstände durchbringen? – ein Fallbeispiel

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Geht alles gut, wenn alles gut geht?

Was passiert, wenn nichts passiert?

Dieser Fall1 soll zeigen, dass Widerstände in Change-Prozessen zwar unangenehm aber durchaus nützlich sein können.

Der Hintergrund

Wortlos heißt nicht gefühllos. Expressionistisches Gemälde „Wortlos“ von Anja Hühn bei KunstNet

Natalie ist seit ca. 2 Jahren Leiterin der Buchhaltung in einem eigentümergeführten Familien-Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau. Sie hat seit ca. 1 Jahr einen neuen Chef, den sie sehr schätzt. 2 Ihre Mitarbeiterinnen sind  sehr erfahren und schon lange in ihrem Job tätig.

 

Natalie hat bei einem externen Seminaranbieter ein Leadership-Programm3 absolviert, von dem sie jetzt das letzte Modul absolviert hat. Sie bespricht ihre Umsetzungs-Vorhaben regelmäßig mit ihrem Chef, der aus ihrer Sicht ein ähnliches (modernes) Führungs-Verständnis hat wie Natalie. Ihr Chef war längere Zeit in den USA und hat dort auch Leadership-Programme absolviert.

Das Fallbeispiel – das Projekt: „erfolgreiche Umsetzung“

Die ganze Abteilung ist seit einiger Zeit in einem Change-Prozess engagiert. Es geht darum, die verwendeten Systeme zu modernisieren / digitalisieren. Es ist bisher ziemlich altertümlich zugegangen. „Wir arbeiteten wie vor 100 Jahren. Jeder Beleg wurde 50 x in die Hand genommen und abgestempelt.“ Außerdem waren die Aufgaben sehr ungleich und unfair verteilt. Ein Teilprojekt zur System-Umstellungen besteht darin, die Aufgaben der Mitarbeiter_innen neu zu verteilen bzw. neue Aufgaben auf die Mitarbeiter_innen aufzuteilen. Gleichzeitig wurde beschlossen, gemeinsam in ein Großraumbüro zu übersiedeln, vor allem, um den Informationsaustausch zu intensivieren.

Natalie nimmt dieses Projekt sehr ernst, weil sie Widerstände von ihren Mitarbeiter_innen, von denen die meisten älter sind als sie, erwartet. Sie hat in vielen Gesprächen mit ihrem Chef ein gutes Konzept entwickelt, die auch die Stärken der Mitarbeiter_innen stärker als bisher berücksichtigt. Sie hat auch sehr detailliert ein Team-Meeting geplant. In dem Team Meeting sollte die Neukonzeption (neue Aufgaben-Verteilung, Umzug, neuer Sitzplan, …) ihren Mitarbeitern unter Beisein  von Natalies Chef präsentiert werden. Sie legten sogar für das Meeting eine Sitzordnung fest und übten die Präsentation.

Erfolg als Prozess

Das Team-Meeting verlief hervorragend. Natalie präsentierte das Konzept. An kritischen Stellen nickt ihr Chef wie vereinbart, um den Mitarbeitern zu zeigen, dass auch er voll dahintersteht.  Am Ende fragte Natalie ihre Mitarbeiter_innen, ob jemand Probleme mit der neuen Konzeption habe. Niemand meldete sich, alles lief problemlos. Es war vielleicht keine große Begeisterung spürbar, das war klar, aber es gab auch keine Kritik und keine Widerstände. Auf die Frage an die Mitarbeiter_innen, ob sie das so umsetzen können und wollen, nickten alle. Natalie war voll zufrieden. Sie hatte erlebt, dass bei ihrem alten Chef häufig ein Tumult bei ähnlichen Sitzungen entstanden ist oder zumindest spürbare Unzufriedenheit. Durch die gute Vorbereitung konnte sie das vermeiden.

Die Frage

Fragen über Fragen

Das Meeting ist problemlos verlaufen, die Änderungen wurden akzeptiert, zumindest nicht abgewehrt. Das ist doch für eine Führungskraft ideal – oder???

Oder doch nicht?

Wie sehen Sie als Leser_in das?

Die Interpretation

Meiner Meinung nach ist der Prozess nicht schlecht, aber auch nicht optimal verlaufen. Wenn sich die Aufgaben von Mitarbeiter_innen ändern, z. T. sogar grundsätzlich ändern, ein Umzug in ein Großraumbüro entschieden wurde, und die Mitarbeiter_innen nicht an dem Veränderungs-Prozess beteiligt waren, dann sind Bedenken, Vorbehalte, Widerstände, negative Emotionen normal und kaum zu vermeiden.

Werden diese Bedenken nicht geäußert, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie trotzdem vorhanden und später – bei der Umsetzung – zum Ausdruck kommen werden. Und dann sind sie meist schwieriger zu bearbeiten und dauern länger, als es im Workshop möglich gewesen wäre. Selbst wenn man annimmt, dass es wirklich keine Widerstände gibt, so wurde dies nicht wirklich überprüft, gecheckt.4

Was kann man jetzt noch tun?

Natalie hat beschlossen, vor der Weiterplanung und Umsetzung noch eine Runde mit Einzelgesprächen mit all ihren Mitarbeitern durchzuführen. In diesen Einzelgesprächen wird sie die Situation jeder einzelnen Mitarbeiter_in herausarbeiten und sie einladen und ermutigen, auch Bedenken zu äußern. Geäußerte, ausgedrückte Bedenken sind weniger problematisch als nicht geäußerte.

Sie wird diese Gespräche im nächsten Team-Meeting ankündigen und die Ergebnisse / Zusammenfassung nach Ende der Gespräche in Team-Meetings besprechen  und ev. zu Tage gebrachten Probleme gemeinsam mit den Mitarbeiter_innen bearbeiten. Auch Gespräche in kleineren Gruppen5eine zweitägige Team-Klausur6 wurde angedacht.7

Lessons Learned

Gewonnene Erkenntnisse

Welche Erkenntnisse8 können aus diesem Fall für den Umgang einer Führungskraft mit Change-Prozessen gewonnen werden

  • Informiere und beteilige die Mitarbeiter_innen bei Change-Prozessen so früh wie möglich, so weit wie möglich.
  • Bereite die Meetings zu den Change-Prozessen gut vor. Aber vermeide nicht die Äußerung von Bedenken und Widerständen der Mitarbeiter_innen. Im Gegenteil: Lade die Mitarbeiter_innen ein und ermutige sie, Widerstände, Bedenken und negative Emotionen zu äußern und auszudrücken. Dann können sie bearbeitet und eventuelle Anpassungen vorgenommen werden. Außerdem sind ausgedrückte negative Gefühle meist weniger stark und positiver als zurückgehaltene.
  • Team-Meetings im Beisein des Chefs der Führungskraft sollten nicht der Normalfall sein und eher vermieden werden. Eine ‚Team-Intimität‘ zwischen Führungskraft und Mitarbeiter_innen ist wichtig.
    Wann ist die Anwesenheit des Chefs der Führungskraft sinnvoll?

    • Zu Beginn eines (Change-)Prozessen, um den Auftrag an das Team und die Erwartungen des Chefs zu klären.
    • Zwischendurch, wenn es Fragen gibt und es sinnvoll ist, dass die Mitarbeiter_innen die Antworten direkt vom Chef hören.
    • Am Ende eines (Teil-)Prozesses, um die Ergebnisse dem Chef zu präsentieren.

Zusammenfassung

  • Bei Veränderungen innerhalb eines Führungsbereichs versuchen Führungskräfte oft vor der Präsentation im Team alles so vorzubereiten und ideal hinzustellen, dass bei den Mitarbeiter_innen keine Diskussionen entstehen, keine Bedenken geäußert werden, keine Widerstände entstehen. Das ist nicht ideal.
  • Zwar ist es gut, keine unnötigen Widerstände zu produzieren, z. B. durch diktatorische Bombenwurf-Veränderungen,
  • aber besser ist es, Bedenken abzufragen, Widerstände herauszufordern / herauszulocken, die Mitarbeiter_innen zu ermutigen, sie zu äußern. Man kann sie dann konstruktiv miteinander bearbeiten und möglichst akzeptierte Lösungen gemeinsam zu entwickeln.

Reflexion für Führungskräfte und Unternehmer_innen

  • Wie viel Widerstände meiner Mitarbeiter_innen lasse ich zu? Wie viel Angst habe ich, die Kontrolle zu verlieren, wenn Mitarbeiter_innen Bedenken oder Kritik äußern?
  • Ist es mir lieber, wenn meine Miterbeiter_innen meine Veränderungsvorschläge akzeptieren oder schätze ich auch Mitarbeiter_innen, die ihre Bedenken frei äußern?
  • Wie gehe ich mit Widerständen meiner Mitarbeiter_innen um?
  • Wie plane ich Änderungen / Innovationen in meinem Führungsbereich / meinem Unternehmen? Wie viel Gedanken mache ich mir zum Prozess der Veränderung?
  • In welchem Ausmaß beteilige ich meine Mitarbeiter und nutze ihr Potenzial bei Veränderungs-Maßnahmen?
  • Welche Rolle spielen bei mir Team-Meetings bei Veränderungsprozessen?

Literatur und Links

Christian Barthel: Fallanalyse als Form forschenden Lernens. https://www.dhpol.de/Fallarbeit_als_Form_forschenden_Lernens_DP.pdf

Christian Barthel: Fallanalyse als Form forschenden Lernens. (erschienen 2010, in: Barthel, Christian/Lorei, Clemens (Hrsg.) Empirische Forschungsmethoden–Eine praxisorientierte Einführung für die Bachelor-und Masterstudiengänge der Polizei, S. 231-265).  https://www.dhpol.de/Fallarbeit_als_Form_forschenden_Lernens_DP.pdf.

 

  1.   Der Fall hat realen Hintergrund, wurde jedoch – wie alle Fälle auf dieser Website – anonymisiert und verändert, um die Quelle unkenntlich zu machen. Manchmal wird auch aus 2 ähnlich gelagerten Fällen einer gemacht, wobei darauf geachtet wird, dass Realitätsgehalt so weit wie möglich erhalten bleibt.
  2.   Ihr voriger Chef war aus ihrer Sicht schrecklich. Durch seine diktatorische und abwertende Art hat er Natalie an den Rand der Verzweiflung gebracht und ihren Gesundheits-Zustand sehr verschlechtert.

    Natalie war zwar  Führungskraft, Abteilungsleiterin, was ihr durch ein e-Mail ohne jedes Gespräch mitgeteilt wurde, sie nahm zuerst an, das e-Mail sei ein Irrläufer. Natalie hatte jedoch keinerlei Führungskompetenzen. Die Einsetzung als Abteilungsleiterin für die Buchhaltung war von der Geschäftsleitung beschlossen worden. Ihr Chef, Leiter des Finanz- und Rechnungswesens, akzeptierte dies nur widerwillig. Sie drückte ihre Rolle als Führungskraft so aus: „Keine Führung – keine Kraft“. Sie wurde sogar auf Anordnung ihres alten Chefs ‚gezwungen‘ ihre beste Mitarbeiterin, die gleichzeitig ihre Freundin war zu kündigen und dies auf die ‚eigene Kappe zu nehmen‘, was ihr lange Zeit schlaflose Nächte bereitet hatte. „Es war für mich die Hölle“, sagte sie.

    Obwohl sie äußerst loyal zum Unternehmen stand und steht, hatte sie beschlossen zu kündigen. Sie hatte zu dieser Zeit bereits konkrete Stellenangebote in der Tasche. Aber der Firmenchef hat die Kündigung nicht angenommen und schließlich ist nicht Natalie sondern ihr Chef gegangen (worden). Ihr Bleiben hat sie mit Bedingungen verknüpft, die akzeptiert wurden (Digitalisierung der Buchhaltung, Einsetzung je einer Stellvertreterin aus der Kreditoren- und Debitoren-Buchhaltung, …) Ihr neuer Chef ist ganz anders. Er nimmt sich Zeit für regelmäßige Arbeitsgespräche mit Natalie und macht wirkungsvolle Team-Meetings. Vor allem nimmt er Natalies Anliegen ernst.

  3.   Die ersten 100 Tage als FührungskraftFolder dazu
  4. Dies hätte z. B. ganz einfach erfolgen können, indem die Mitarbeiter_innen in Gruppen aufgeteilt der Frage nachgehen: „Was ist positiv, gut und brauchbar an diesem Konzept und was könnte noch verändert / verbessert werden.“ In der Gruppe kommen die problematischen Seiten sehr schnell an die Oberfläche. Durch die Gruppenarbeit ist es auch leichter für die Mitarbeiter_innen, die Bedenken zu äußern und können dann in der Gesamtgruppe oder auch bei einer nachfolgenden Team-Meeting bearbeitet werden.
  5.   mit je 2 – 3 Mitarbeiter_innen, die die gleiche Tätigkeit haben und sich gegenseitig vertreten 
  6. sowohl zur Anpassung und Umsetzung des Konzepts als auch zur Team-Entwicklung
  7. Natalie hat bereits vorher ein kleines Projekt durchgeführt, in dem jeder jeden vertreten kann. Da sie viele Teilzeit-Beschäftigte hat wurden auch Paare gebildet, die sich gegenseitig vertreten und mehr oder weniger die gleiche Arbeit verrichten – sowohl in der Debitoren- als auch in der Kreditoren-Buchhaltung.
  8.   Der Begriff „Lessons Learned“ wird vor allem im Projekt-Management (vgl. z. B. pmqs.de: Befragung zur Erfassung und Nutzung von historischen Projektdaten   ) und im Wissens-Management (vgl. z. B. Robert Neumann, Waltraud Grillitsch, Alexandra Müller-Stingl: Best Practices und Lessons Learned aus Wissensmanagement-Initiativen  sowie die artikelserie: Lessons Learned ) angewandt.

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